Tonale Wohlfühlinseln und avantgardistische Verstörung

Jörg Widmanns Oper „Babylon“ wird an der Münchner Staatsoper uraufgeführt

Anna Prohaska als Inanna Foto: Wilfried Hösl

Selten wurde im Vorfeld einer Opernuraufführung so viel Wirbel gemacht. Man las von Genitalseptetten und Menschenopfern, von Sintflut und Meteoritenhagel. Man sah Fotos von gläsernen Vulven und gewaltigen Volksaufmärschen. Nach der umjubelten Premiere von Jörg Widmanns Oper „Babylon“ nach einem Libretto des Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk ist man in der ausverkauften Münchner Staatsoper vor allem beeindruckt von der technischen Umsetzung dieses komplexen Stoffes (Regie: Carlus Padrissa – La Fura dels Baus). Geboten wurde ein dreistündiges, sinnliches Opernspektakel mit rauschhafter Musik und ebensolcher Bilderflut. Kein dröger Neue-Musik-Abend für Puritaner, sondern ein effektvoller, stilistischer Parforceritt für Opern-Normalos. Das Bayerische Staatsorchester setzte unter der souveränen Leitung des Generalmusikdirektors Kent Nagano die hochkomplexe, immer wieder von heftigen Klangeruptionen geprägte Partitur Widmanns mit nie nachlassender Ausdruckskraft um. Chor und Solisten agierten auf ähnlich hohem Niveau. Dennoch geriet das Werk vor allem im ersten Teil mitunter zur Materialschlacht im Orchestergraben und auf der Bühne.

Nicht immer gelang es dem Freiburger Professor für Klarinette und Komposition, seine in „Babylon“ gezeigten unterschiedlichen kompositorischen Gesichter schlüssig miteinander zu verbinden. Die akustische Reizüberflutung wurde durch die opulente Regie noch potenziert – weniger wäre hier mehr gewesen.
Der Opernabend, den Intendant Nikolaus Bachler für alle Beteiligten dem verstorbenen Komponisten (und Lehrer von Jörg Widmann) Hans Werner Henze widmet, beginnt mit einem starken Prolog. Vor den Trümmern einer zerstörten, brennenden Stadt singt der Countertenor Kai Wessel als Skorpionmensch (Kostüme: Chu Oroz) die warnenden Worte „Wer dich wieder aufbaut, sei verflucht“ aus dem Buch Josua in schlichten Linien. Am Ende, nachdem das glanzvoll erstarkte Babylon erneut in Trümmern liegt, kehrt er wieder – und beendet die Oper im gleichen, verhaltenen Ton, wie sie begonnen hat. Die Zerstörung kann der Mensch nicht verhindern. Aber aus der Asche wird eine neue Glut. Dazwischen liegen sieben große Bilder, in denen Jörg Widmann und Peter Sloterdijk ein Panorama der Stadt zur Zeit des babylonischen Exils (6. Jhdt. v.Chr.) entwerfen. Der Jude Tammu (geschmeidig, aber nicht immer mit der notwendigen Strahlkraft: der Tenor Jussi Myllys) liebt die babylonische Priesterin Inanna, die wesensgleich mit der Göttin Ischtar für die freie, lustvolle Liebe steht. Anna Prohaska verleiht mit ihrem glockenhellen, mühelos bis in sphärische Höhen aufsteigenden Sopran dieser sexuell aufgeladenen Figur eine berührende Menschlichkeit. Wie überhaupt sich die Autoren darum bemühen, das unter einem negativen Ruf leidende Babylon zu rehabilitieren. Keine Hure Babylon, sondern ein Ort voller Toleranz. Kein chaotisches Sprachengewirr, sondern spannende Multikulturalität.
Diese äußert sich nicht nur in den aus verschiedenen Schriftzeichen und Buchstaben gebildeten Bausteinen der Mauern (Bühne: Roland Olbeter), sondern auch in Jörg Widmanns Musik, die blitzschnell wechseln kann zwischen tonalen Wohlfühlinseln und avantgardistischer Verstörung, zwischen statuarischen Chören (Leitung: Sören Eckhoff) und grellen Orchesterfarben. Auch kennt Widmann die Parodie, wenn er im dritten Bild zum orgiastischen Neujahrsfest (mit begrenzt orgiastischen, singenden Geschlechtsorganen) Märsche und Walzer durch den symphonischen Mixer dreht und ein swingendes Affenseptett die Kokosnuss suchen lässt. Ezechiel (August Zirner), der jüdische Prophet, mahnt vergeblich zur Enthaltsamkeit. Und auch die warnenden Worte der Seele (stark: Claron McFadden) finden kein Gehör. Das Publikum lässt sich vom mächtigen dramatischen Sopran Gabriele Schnauts (Euphrat) zum Meteoriteneinschlag und zur Sintflut führen, die durchaus eindrucksvoll auf der großen Leinwand digital entstehen (Video: welovecode). Insgesamt leidet die Inszenierung jedoch unter szenischer Verdopplung und den zu ungebremst strömenden Bildern.
Nach der Pause wird der Abend dichter – szenisch wie musikalisch. Das auch von der Regie fokussierte Opferfest wird von Jörg Widmann mit dunklem, animalischen Orchesterstöhnen zum Leben erweckt (präsent als Priesterkönig und Tod: Willard White). Der Besuch von Inanna in der Unterwelt, die mit ihrem berührenden Gesang den geopferten Tammu ins Leben zurückzuholt, ist nicht nur durch die sich lustvoll räkelnden Körper, die auf die gesamte Bühne projiziert werden, eine packende Szene. Und wenn die beiden Liebenden wie Orpheus und Eurydike der Unterwelt entsteigen, verliert der Tod seinen Schrecken. Weitere Vorstellungen: 3./6./ 10.11, jeweils 19 Uhr. Karten: www.staatsoper.de Georg Rudiger