Schiefe Palmen

Die beschriebene Palme
Foto: Elisabeth Jockers

Mal ehrlich, schauen Sie Nachrichten im Urlaub? Als Journalistin darf ich das eigentlich nicht zugeben, aber sogar ich bin ab und zu froh über Funklöcher – denen begegne ich zwar meistens auf deutschen Landstraßen, aber auch ein Urlaub eignet sich hervorragend dazu, die Welt für ein paar Tage Welt sein zu lassen. Während ich also am Strand liege, einfach mal in die Weite starre (was wir übrigens viel zu selten tun) und meinen Gedanken freien Lauf lasse, fällt mein Blick auf eine schiefe Palme am Strand. Mein Blick ist nicht ohne Grund hängengeblieben: Just in diesem Moment wird sie zwecks Instagramfoto von Touristen bestiegen, erschaudert unter der Last, ächzt lautstark und biegt sich weiter gen Boden. Am Tag zuvor erzählte mir ein Gärtner, sie wäre bei einem Sturm umgeknickt, aber Dank des zweiten Stammes scheint sie genug Halt zu finden. Er mache sich aber Sorgen um die Palme – Sorgen, weil die Touristen ihren Lebenskampf nicht zu erkennen scheinen. Ein Kampf, der nach jedem Tourihintern größer wird – ihr Seufzen im Winde wird lauter, ihr Stamm kommt dem Sand gefährlich nah.
Nun, gerade schrieb ich noch, ich würde im Urlaub keine Nachrichten schauen, das stimmt nicht ganz. Manchmal fällt mein Blick dann doch auf eine Pushnachricht und ich lese die nächste politische Hiobsbotschaft. Grüne Atomkraft, steigende Inzidenzen, bodenlose Militarisierung und Muskelspiele, Inflation und … nanu, das 9-Euro-Ticket als Gratismentalität. Kurze Frage: Laufen schiefe Palmen in der Politik eigentlich als eigene Gattung? Falls Botaniker*innen das hier lesen, würde ich mich über eine kurze Aufklärung freuen.
Zurück zur Gratismentalität. Ja, das 9-Euro-Ticket kommt vor allem Städtern zugute – übrigens nur deshalb, weil wir in den letzten Jahrzehnten unseren Nahverkehr kontinuierlich abgebaut haben. Doch laut dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen ersetzten zehn Prozent aller Fahrten mit dem Ticket das Auto, insgesamt wurden 1,8 Mio. Tonnen weniger CO2 ausgestoßen. Nicht nur das Klima freut sich, auch sozial bewirkte das Ticket einiges: Viele Familien konnten das erste Mal überhaupt in den Urlaub fahren, zahlreiche Menschen haben sich in die Regionalbahnen gequetscht, um einmal die großen und kleinen Städte ihres Landes besichtigen zu können. Wenn ein deutscher Finanzminister hart arbeitenden Bürger*innen Gratismentalität vorwirft, weil sie sich bezahlbare Preise für den öffentlichen Nahverkehr wünschen, ist das nicht nur ein Fauxpas, sondern schlichtweg respektlos!
Eine kleine Rechnung: Nach Recherchen des Spiegels 2020 verdiente Christian Lindner in der 19. Legislaturperiode mind. 424.500 € aus Nebentätigkeiten. Als Finanzminister erhält er nach Artikel 48, Absatz 3 des Grundgesetzes zudem eine monatliche Abgeordnetenentschädigung von 10.089,47 € und, damit er uns nicht vom Fleische fällt, jährlich zum 1. Januar eine Aufwandspauschale von derzeit 4.497 €. Kurz zusammengerechnet komme ich auf ein tägliches Einkommen von ca. 1507 €. Nur zur Orientierung: das Bruttomonatseinkommen in z.B. Pflegeberufen liegt zwischen 1.855 € und 3.131 € – monatlich, Herr Lindner, Sie haben richtig gehört.
Wie fern Politiker*innen der Lebensrealität ihrer Bürger*innen sind, zeigt sich auch bei den geplanten Steuerentlastungen, von denen vor allem Personen mit einem Jahreseinkommen von 80.000 €+ profitieren. Der Ökonom Prof. Marcel Fratzscher twitterte im August dazu: „Menschen mit geringen Einkommen erfahren eine 3-4 Mal stärkere Inflation. (…) Dieser Plan ist daher kein Inflationsausgleich, sondern eine Umverteilung von unten nach oben.“
Derzeit scheint es, als würden Politiker*innen eine schiefe Palme sehen, sie als solche identifizieren und … sich direkt draufsetzen. Ich für meinen Teil spreche mich für ein verpflichtendes soziales Jahr aus – für Politiker*innen. Einfach mal ein Jahr im Pflegeheim oder Krankenhaus, in der Kita, auf dem Bau, im Supermarkt, der Gebäudereinigung oder einem anderen Beruf arbeiten, der unser Hamsterrad am Laufen hält.

Bildquellen

  • Besagte Palme: Foto: Elisabeth Jockers
  • Schiefe Palmen: Foto: Ana Arantes