Nah beieinander, fern von allem

Dass eine internationale Messe mit mehreren Hunderttausend Besucher*innen über vier Tage hinweg ohne Hallenausstellung funktionieren kann, klingt ungewöhnlich, aber 2020 hat bewiesen: Pandemien machen erfinderisch. Daher findet die Frankfurter Buchmesse als „Special Edition“ dieses Jahr mit einem digitalen Ausstellungsprogramm und nur einigen wenigen physischen, dafür aber umso mehr virtuellen Formaten statt. Einzig der Auftritt des Gastlandes Kanada wurde – verständlicherweise – auf nächstes Jahr verschoben. Virtuell wird der Ehrengast trotzdem mit einem vielfältigen Kulturprogramm präsent sein, womit es in der Geschichte der Buchmesse erstmalig einen Doppelauftritt gibt. Höchste Zeit einen Blick auf das literarische Geschehen im Great White North zu werfen oder, genauer gesagt, auf eine der gegenwärtig spannendsten kanadischen Autor*innen: Marie-Claire Blais.
25 Jahre hat es gedauert, bis „Soifs“ (frz. Pl.: Durst) von Nicola Denis unter dem Titel „Drei Nächte, drei Tage“ ins Deutsche übersetzt wurde – dabei blickt die mittlerweile 81-jährige Blais auf ein Werk von insgesamt 58 Romanen, Dramen, Gedichtbänden und Essays zurück. Ihren ersten Roman „La Belle Bête“ veröffentlichte die frankokanadische Autorin im Alter von gerade einmal 20 Jahren, mit „Une Saison dans la Vie d‘Emmanuel“ und der darauffolgenden Verleihung des Prix Médicis etablierte sich Blais Mitte der 1960er-Jahre endgültig zur festen Größe innerhalb der kanadisch-französischen Literaturlandschaft. Es folgten u.a. zwei Guggenheim-Fellowships, eine Nobelpreis-Nominierung und zahllose weitere Auszeichnungen – trotzdem ist Marie-Claire Blais im englischen – wie deutschsprachigen Raum immer noch weitestgehend unbekannt.
Dies könnte damit zusammenhängen, dass es manchmal nicht ganz einfach ist, die Notwendigkeit oder gar den Sinn eines Romans zu sehen, der weder Story noch Plot verhandelt. Wahrscheinlich werden deshalb auch so viele Werke der sogenannten Weltliteratur (Joyce, Proust) zwar sehr oft verkauft, aber umso seltener gelesen. Mit „Drei Nächte, drei Tage“ verhält es sich ähnlich.

Cover „Drei Nächte, drei Tage“ – Marie-Claire Blais, Foto: Suhrkamp

Der zugegebenermaßen nicht ganz einfache Roman ist das erste und titelgebende Buch eines auf zehn Bände angelegten Zyklus, den Marie-Claire Blais im Jahr 2018 mit der Veröffentlichung des letzten Buchs „Une réunion près de la mer“ vollendete. Mit diesem mehrere tausend Seiten starken und gut 200 Charaktere umfassenden Projekt hat sich Blais stilistisch, entgegen ihrem Frühwerk, weitestgehend von konventioneller Erzählliteratur weg und hin zu einer impressionistisch-subjektiven Prosa bewegt, die in ihren besten Momenten an die späte Virginia Woolf oder die Polyphonie Faulkners erinnert; nicht umsonst stammt das Epigraph von „Drei Nächte, drei Tage“ aus Woolfs letztem und avanciertestem Roman „The Waves“.
Das Setting der Erzählung ist im Grunde schnell bestimmt: Ende Dezember 1999, eine namenlose Insel im Golf von Mexiko, eine handvoll exzentrischer Charaktere. Apokalyptischer Hedonismus auf der einen, soziale Ungleichheit auf der anderen Seite. Inmitten von Künstlerinnen, Drag Queens, Geflüchteten und Ku-Klux-Klan-Anhängern versuchen die Anwältin Renata und ihr Lebensgefährte Claude, nah beieinander, fern von allem, wie es im ersten Satz heißt, Ruhe und Erholung in der tropischen Abgeschiedenheit zu finden, während die Insel sich in der Erwartung des nahenden Millenniums und der Geburt eines asthmatischen Kindes in zunehmend opulenteren und gewaltsameren Ausschweifungen verliert.
Der Anspruch des Buchs ist dabei in jeglicher Hinsicht radikal – einen einzigen Punkt gewährt uns „Drei Nächte, drei Tage“ auf den 391 Seiten der deutschen Übersetzung. Über hunderte Seiten hinweg reihen sich Blais‘ Parataxen (gram.: gleichrangige Aneinanderreihung von Hauptsätzen) zu einer rauschhaften Sprachkaskade, welche die wiederkehrende Atemlosigkeit Renatas, die sich von einer Pneumektomie, der tumorbedingten Entfernung eines Lungenflügels erholt, quasi körperlich erfahrbar macht. Unbeirrt von den äußeren Kontinuitätsregeln (Zeit, Raum), mit denen das klassisch lineare Erzählen unsere Seh- und Lesegewohnheiten geprägt hat, folgt diese Erzählung ihrem eigenen und inneren poetischen Rhythmus. Wo andere Bücher ihre Leser*innen ins Vogelnest setzen, von wo aus sie bequem die Entfaltung der Handlung verfolgen dürfen, wirft einen „Drei Nächte, drei Tage“ schonungslos in seinen vielstimmigen Chor aus Stimmen hinein, dessen scheinbar willkürliches Ineinander von Gedanken, Wahrnehmungen und Erinnerungen an ein barockes Fresko erinnert, das bei jedem Anblick gleichzeitig Neues und Bekanntes erkennen lässt. Analog zu Virginia Woolfs späten Romanen entwickelt hier die Sprache selbst ein subversives Potenzial, indem sie die logischen Zwänge des klassischen Satzbaus und zielgerichteten Denkens unterläuft und somit einen neuen, von Hierarchien befreiten Erfahrungsraum eröffnet.
Marie Claire-Blais schreibt sich so zweifellos in die Tradition feministischer Literatur des 20. Jahrhunderts ein – einerseits indem sie ihre Sprache zur revolutionären Praxis macht, andererseits indem sie eine Erzählung konstruiert, die Einblicke in die Wahrnehmung ihrer Figuren, die, wie unsere auch, von internalisierten Geschlechter- und Rollenbildern geprägt ist, unvermittelt zulässt und damit immer wieder aufzeigt, wie solche Konstruktionen manchmal kritisch hinterfragt, manchmal bewusst ignoriert werden.
Diese erfrischende Uneindeutigkeit des Romans macht gerade seine Qualität aus – während anderswo Entscheidungen regieren, plädiert „Drei Nächte, drei Tage“ für ein emphatisches Nebeneinander von Erfahrungen; moralischer wie amoralischer, utopischer wie dystopischer, ängstlicher wie hoffnungsvoller, und wird damit in einer Gegenwart, die zunehmend nach Vereindeutigung strebt, zu einem umso wichtigeren, notwendigen Buch.
Marie-Claire Blais, „Drei Nächte, drei Tage“, Bibliothek Suhrkamp 2020

Bildquellen

  • Cover „Drei Nächte, drei Tage“ – Marie-Claire Blais: Suhrkamp