Kunstseminare im Lockdown – eine unverhoffte Quelle für die künstlerische Arbeit

In Zeiten geschlossener Hochschulen und digitaler Lehre ist die künstlerische Praxislehre stark beeinträchtigt. Wie soll auch ein Druck-, Malerei-oder Bildhauereiseminar durchführbar sein, wenn die Schnittstelle zwischen Studierenden und Dozent*innen aus einem 15 Zoll-Bildschirm besteht? Während sich eine Hörsaalsituation vergleichsweise leicht in ein Videokonferenzformat übersetzen lässt, so bedarf der Austausch über und durch Kunst der Unmittelbarkeit. Nuancen der Faktur und die Einnahme eines Betrachtungsstandpunkts begründen nur zwei von vielen Aspekten im Umgang mit Kunst. Was sollte also in Lernarrangements des Lockdowns über einen Behelf hinaus zu gewinnen sein?

Doch jede Veränderung des Gewohnten birgt kreatives Potenzial. Wenn der Alltag von außen „gewaltsam“ transformiert wird, erlöschen Handlungsroutinen und neue situative Modalitäten des Wahrnehmens, Denkens und Empfindens werden möglich. Die zentrale Veränderung während des Lockdowns war der zwangsweise Rückzug aus der (Hochschul-) Öffentlichkeit. Die weitgehende Reduktion auf das eigene Zimmer, erlebten viele Studierende als starke Einschränkung – und als Verlust.
Die Studierenden eines Kunstseminars wurden angeregt, sich mit dieser Situation künstlerisch auseinanderzusetzen. Meist stand die Sehnsucht nach nicht erreichbaren Menschen im Mittelpunkt. Wie stellt man Abwesendes dar? Ein Seminarteilnehmer machte kriminologisch die Fingerabdrücke der Menschen sichtbar, die noch vor kurzem in seiner Wohnung ein- und ausgegangen waren, eine Studentin beschäftigte sich mit einem verlassenen Bett, eine andere Kommilitonin mit dem Verlust der eigenen Kindheit, der sie sich, zurückgekehrt ins Elternhaus, in Gestalt ihres früheren Kinderschlittens gegenüber sah.
Doch im selben Maß, wie die Situation den eigenen Radius signifikant zu beschränken schien, erweiterte ihn der künstlerische Blick. Gerade weil die Routine des Alltags zu Hause durch die ungewohnte Seminarsituation überlagert wurde, entfalteten sich alte Räume neu. Eine Studentin schreibt:

„Dieses Semester war sehr intensiv für mich. Corona hat uns alle aus der Bahn geworfen und hat für uns alle Auswirkungen gehabt. Und auch vor allem auf die Räume, in denen wir uns bewegt haben. Wir konnten nicht mehr an die PH gehen, konnten nicht mehr in die Kunstwerkstatt gehen, um dort zu arbeiten. Und so ist mein Zimmer zu meiner Werkstatt geworden. Dort habe ich mich entfaltet. Nicht nur gedanklich, sondern auch mit allen Materialien – sodass am Ende noch kaum mehr Platz für mich selbst da war. In meinem Zimmer wurde ich sozusagen von mir selbst verdrängt. Besonders offensichtlich in den ‚künstlerischen Konzeptionen‘: Die Installation, ein Abdruck von mir selber, hing mitten in meinem Zimmer. Mehrere Tage lang. Ich musste diesem Abdruck von mir aus dem Weg gehen, und konnte mich nicht mehr in meinem Zimmer bewegen, wie ich es gewohnt war.Und so wurde mein Zimmer neu ausgefüllt – anders von mir ausgefüllt, eine andere Seite von mir kam zum Vorschein. Für mich hatte das etwas Geisterhaftes. Ich hatte das Gefühl, alles dreht sich in meinem Zimmer um mich, obwohl das nicht mehr ich selber bin. Mein Zimmer wurde zum Gravitationszentrum.“

Die eigenen vier Wände wandeln sich unter den Bedingungen der Online-Lehre. Sie beschränken einerseits den Aktionsradius geradezu retrodynamisch, wenn das WG-Zimmer aufgegeben und das frühere Jugendzimmer bei den Eltern wieder bezogen wird. Der Raum mit seinen realen Begrenzungen und mit seinen digitalen Schnittstellen wird in der zwangsweise veränderten Alltagspraxis neu wahrgenommen, neu vermessen und neu belebt. Gerade die gemeinsame „Vorgeschichte“ zwischen Person und Dingen in vertrauten Räumen erscheint in der Situation des Lockdowns als eine unverhoffte Quelle für die künstlerische Arbeit. Man steht nicht nur „in touch“ mit den screens der digitalen Geräte sondern ist „handfest“ herausgefordert: Platz schaffen, Umschichten, Umräumen.
Räume sind nicht nur strukturell definiert, sie entstehen und verändern sich gemäß der sozialen Praxis – und im künstlerischen Prozess. Das eigene Zimmer wird zu einem künstlerischen Werk- und Aktionsraum, ein früheres Jugendzimmer wird als liminales Gehäuse wiederbezogen, künstlerisch exploriert und in einen neuen Schwebezustand überführt. Anders als in den pädagogisch gedachten, funktionalen „Behälter-Räumen“ einer Hochschule, in denen man sozial und strukturell habitualisiert im 90-Minuten-Rhythmus arbeitet, gilt es, sich in den ge“wohn“ten Umgebungen neu zu orientieren, neue Schneisen zu schlagen – auch geistig. Das bedeutet erst einmal sich mit den Dingen, die „immer schon da“ waren, neu ins Verhältnis zu setzen: Sie auf den Kopf zu stellen oder sich selbst.

Wird das eigene Zimmer zur Werkstatt, lassen sich klassische bildnerische Verfahren nicht „werkgerecht“ durchführen. Den Studierenden fallen Materialien und Werkstoffe „in die Hände“, die sie abwägen und testen. Sie finden Problemlösungen ohne Rückversicherung an klassische Verfahrensregeln, sie improvisieren und besinnen sich dabei auf den Begriff „techné“: Technik als Mittel zum Erreichen eines individuellen Zieles.
Wenn das eigene Zimmer zwangsweise zum ständigen Verweil- und Handlungsort wird, und „Altes“ durch unerwartete Wahrnehmungen, unverhoffte Gedanken und Handlungen neu decodiert wird – dann haben schlichtweg alle Dinge und Gegebenheiten das Potenzial für eine kreative Neudeutung.

Tim Tobian beschäftigt sich direkt mit seinem Zimmer, in dem er das halbe Jahr viel allein war. „Ich habe das Zimmer mit Aluminiumfolie ausgekleidet und die Körperteile von den Menschen abgeformt, die in den letzten sechs Monaten in dem Zimmer waren.“ Die Folie legt sich wie Mehltau auf die Oberflächen, aber bewahrt sie auch. Der Student assoziiert den Ascheregen von Pompei und damit überzeitliche Konservierung, aber auch Gefahrenabwehr durch das „schützende Aluminium“, wie er schreibt.
Räume sind nicht nur das Resultat konzeptioneller architektonischer Überlegungen, sondern entstehen erst in der sozialen– und in der künstlerischen – Praxis. Umgekehrt wirken diese Räume auf die Praxis ein, wenn die Nutzer*innen künstlerisch sensibilisiert, sich zu Kreativität entscheiden. Möglicherweise hat das Virus 2020 nicht nur alte Räume verschlossen, sondern neue eröffnet.

Thomas Heyl
Prof. Dr. Thomas Hey ist Professor im Institut der Künste

 

Bildquellen

  • Das eigene Zimmer wird zur Werkstatt: Tim Tobian