Im Gespräch: Dr. Jan Eckel, Privatdozent und Akademischer Rat am Historischen Seminar der Universität Freiburg

Im Bewusstsein handeln wäre Fortschritt

Das Thema „Menschenrechte“ ist im Grunde kein rein akademisches Anliegen, sondern berührt auch philosophische und politische Fragen, die die breite Gesellschaft betreffen und interessieren. Der Historiker Jan Eckel hat es nun in seiner Studie „Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern“ aufgegriffen und empirisch untersucht. Seine Ergebnisse beleuchten nicht nur die Gesamtgeschichte der Menschenrechtspolitik seit 1945 von einer bislang unbekannten Seite, sondern werfen zugleich ein Schlaglicht auf die neu zu schreibende Geschichte der internationalen Beziehungen.
Friederike Zimmermann befragte ihn zu den verschiedenen Facetten des vermeintlich Guten – etwa am Beispiel humanitärer Einsätze, deren Folgen als Ganzes betrachtet nicht zwangsläufig und immer als positiv zu bewerten sind; ein so neuer wie brisanter Aspekt insbesondere im Hinblick auf die aktuellen Geschehnisse in Syrien.

Kultur Joker: Herr Eckel, wie kam es zu Ihrer Studie über Menschenrechte? Gab es dafür einen bestimmten Auslöser, wie zum Beispiel eine bestimmte Katastrophe oder ein Verbrechen?

Jan Eckel: Nein, den gab es nicht. Eine Rolle spielte vielmehr die Überlegung, dass wir das 20. Jahrhundert grundsätzlich als Jahrhundert der Katastrophen begreifen. Man denke nur an die beiden Weltkriege, den Holocaust oder andere Genozide. Auf der anderen Seite gab es aber auch eine Vielzahl an Leuten, die sich dafür einsetzten, anderen Menschen in Not zu helfen. Diese andere Seite des „Zeitalters der Extreme“, wie es auch genannt worden ist, hat mich interessiert. Ich wollte das Jahrhundert nicht nur von den Schrecken her verstehen, sondern den Blick auf die mannigfaltigen Versuche richten, zu helfen. Dabei stellt man fest, dass sich beide Seiten nicht wie Licht und Schatten zueinander verhalten und nicht immer alles, was gut scheint, auch gut motiviert ist oder positive Folgen hat. Diese Ambivalenz hat mich an diesem Thema sehr gereizt.

Kultur Joker: Eigentlicher Ausgangspunkt war also darzustellen, dass das 20. Jahrhundert gar nicht so schwarz war. Doch dann sind Sie darauf gestoßen, dass das Gute gar nicht immer so „weiß“ oder edel war…

Jan Eckel: Ja, oder anders gesagt: Dass Menschenrechtspolitik auch in sich gebrochen war. Dennoch ging es mir nicht darum, all das Schreckliche zu relativieren. Vielmehr war es der Versuch einen anderen Ausschnitt zu beleuchten, von dem wir historisch betrachtet sehr wenig wissen.

Kultur Joker: Keiner hat das je vor Ihnen untersucht. Warum?

Jan Eckel: Tatsächlich wurde die Menschenrechtsgeschichte wissenschaftlich lange Zeit nicht bearbeitet. Seit etwa sechs oder acht Jahren ist jedoch ein sehr starkes Interesse aufgekommen. Zu dieser ersten Gruppe von Wissenschaftlern zähle auch ich. In der letzten Zeit gibt es sogar eine regelrechte Konjunktur der Beschäftigung mit Menschenrechten.

Kultur Joker: Woran liegt das? Ist das ein Indiz dafür, dass die Thematisierung der „Ambivalenz des Guten“ bzgl. der Menschenrechtspolitik dringlicher ist denn je?

Jan Eckel: Das würde ich nicht unbedingt sagen. Man muss sich vielmehr fragen, warum das nicht schon vor 25 Jahren angefangen hat, als es in Jugoslawien einen verheerenden Bürgerkrieg oder in Ruanda einen Massenmord gegeben hat. Ich glaube, dass es den Historikerinnen und Historikern erst mit einer gewissen Verzögerung bewusst geworden ist, dass die Menschenrechtspolitik seit den 90ern in der Politik zumindest rhetorisch eine größere Rolle spielt als zuvor. Hinzu kommt eine innerfachliche Veränderung, denn in den letzten 15 Jahren sind viele Kolleginnen und Kollegen stärker interessiert an global-historischen Fragen wie Bevölkerungspolitik, Umweltpolitik, Globalisierung usw.; alles Felder, auf denen man viele weltgeschichtliche Zusammenhänge in den Blick bekommt. Das ist ein großer Reiz für die Historiker und spiegelt sich zeitverzögert in den Fragen, die wir an die Geschichte stellen.

Kultur Joker: Dann darf man also nicht den Schluss ziehen, dass die Menschheit auf der Leiter der Zivilisation eine Stufe höher gekommen ist?

Jan Eckel: Nein, die globalen Kriege und Auseinandersetzungen lassen das ja nicht gerade vermuten. Wir haben derzeit eine Reihe von sehr gewalttätigen Konflikten, man denke nur an den Islamischen Staat.

Kultur Joker: Findet die Fokussierung auf das Thema „Menschenrechte“ auf der ganzen Welt statt oder ist das vielmehr ein Phänomen der westlichen Welt?

Jan Eckel: Ich würde schon denken, dass sowohl die Bedeutung als auch die Wahrung von Menschenrechten in sehr hohem Maße zum westlichen Selbstverständnis gehört. Andererseits stellen wir fest, dass auch Putin in der Ukrainekrise mit Menschenrechten argumentiert. Dennoch sind in Ländern etwa des globalen Südens, in denen Armut und Hunger herrschen, für viele Menschen andere Dinge vielleicht vordringlicher, als einen Kampf für politische Rechte zu führen. Es hat auch immer wieder Attacken auf den Menschenrechtsgedanken gegeben. China oder einige südostasiatische Staaten haben etwa in den 90er Jahren argumentiert, das Thema „Menschenrechte“ würde vom Westen als Herrschaftsinstrument eingesetzt, um andere Staaten zu maßregeln.

Kultur Joker: Dann ist das westliche Beharren auf Menschenrechte auch ein Reflex auf unseren Wohlstand?

Jan Eckel: Ich glaube schon, dass sich mit wachsendem Wohlstand diesbezüglich viel verändert hat. Die Aktivisten von Amnesty International kommen überwiegend aus der westlichen Mittelschicht, sind gut situiert, haben Bildung und Einkommen. So gesehen ist es als Reflex darauf zu werten, dass man überhaupt Zeit hat sich zu engagieren ohne um die eigene Existenz kämpfen zu müssen. Das länderübergreifende Engagement für Menschenrechte ist lange Zeit ein primär westliches Phänomen gewesen.

Kultur Joker: Wenn etwas nur getan wird, sobald man es sich leisten kann, relativiert das ja auch schon wieder das „Gute“ und passt zur „Ambivalenz“, von der Sie sprechen…

Jan Eckel: Ja, das spielt sicher eine Rolle. Aber das ist schließlich erklärlich und auch an anderen Beispielen gut abzulesen: Die Spendenmotivation der Deutschen bestand kurz nach 1945 vor allem darin deutschen Kriegsopfern zu helfen. In den 60ern oder 70ern, als es den Deutschen wieder besser ging, spendete man für die Hungerhilfe in Afrika und für Menschenrechtsorganisationen. Das hängt aber auch damit zusammen, worüber die Medien gerade berichten. In den 70ern Jahren wurde sehr viel über den Militärputsch in Chile berichtet; gleichzeitig wurden in Kambodscha an die zwei Millionen Menschen ermordet – einer der größten Massenmorde des 20. Jahrhunderts –, darüber wurde sehr wenig berichtet. Für welche Notlagen es ein Bewusstsein gibt, hängt also auch von der medialen Aufmerksamkeit ab.

Kultur Joker: Bei Wikipedia findet sich die Definition: „Als Menschenrechte werden subjektive Rechte bezeichnet, die jedem Menschen gleichermaßen zustehen.“ Gibt es denn einen international einheitlichen Konsens für Menschenrechte?

Jan Eckel: Es gibt eine ganze Reihe von Erklärungen dazu, was unter Menschenrechten zu verstehen ist. Die wichtigste ist die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948, ein sehr langer Katalog politischer, wirtschaftlicher und sozialer Rechte, die von den Staaten ausgehandelt wurden und somit einen Kompromiss darstellen. Auf der anderen Seite gibt es kein internationales Gremium, das diese Rechte auch durchsetzen kann.

Kultur Joker: Sie fragen in Ihrem Buch nach den individuellen (nationalen) Interessen, die häufig hinter „moralisch einwandfreiem“ außenpolitischem Handeln stecken. Wie kann man so etwas objektiv beurteilen? Ist das nicht immer zugleich eine Interpretation?

Jan Eckel: Es stimmt, das ist keine objektive Wahrheit, sondern man versucht plausible Argumente zu finden, die anderen zu überzeugen.

Kultur Joker: Wie sind Sie dann vorgegangen?

Jan Eckel: Ich versuchte an die Archivmaterialien der Staaten zu kommen, aus denen die jeweiligen Strategien der Politiker ersichtlich werden. Diese enthalten interne Überlegungen wie: Was wollen wir mit unserer Menschenrechtspolitik erreichen? Wofür setzen wir uns ein? – eben Dinge, die seinerzeit nicht unbedingt öffentlich gemacht wurden.

Kultur Joker: In diese bekommt man tatsächlich Einblick?

Jan Eckel: Nicht immer und überall. In vielen Ländern kann man Regierungsunterlagen nach einer Frist von etwa 30 Jahren einsehen. Manchmal wird aber auch dann nicht alles zugänglich gemacht. Von Amnesty International wurde zum Beispiel sehr viel freigegeben; jeder darf das ansehen. Das sind die wichtigsten Materialien, die man dazu hat.

Kultur Joker: Menschenrechte sind, wie Sie sagten, erst seit 1948 festgeschrieben. Gab es dazu vorher keine Definition?

Jan Eckel: Den Begriff gibt es erst seit dem 18. Jahrhundert, die Vorstellung, dass Menschen gegenüber ihrem Staat Rechte haben sollten, gibt es jedoch schon länger und fußt auf einer langfristigen Entwicklung über Jahrhunderte hinweg. Dass man sich aber international, begründet durch die UN nach dem Zweiten Weltkrieg, zu einer langen Liste von Menschenrechten bekannte, das hat es vorher noch nicht gegeben.

Kultur Joker: Wo stehen wir heute bezüglich der Menschenrechte im Vergleich zu 1945?

Jan Eckel: In den letzten fünf, sechs Jahrzehnten führten einige viel beachtete Fälle der Menschenrechtsverletzung dazu, dass viel diskutiert und Institutionen geschaffen wurden. Auf diese Weise entstand ein international deutlich höheres Bewusstsein für die Bedeutung von Menschenrechten. Dennoch ist es auch in den westlichen Staaten eine relativ junge Entwicklung, dass sich alle politischen Parteien zum außenpolitischen Menschenrechtsschutz bekennen. In den 70ern gab es darüber noch heftige Auseinandersetzungen, erst in den 80er Jahren reifte ein übergreifender Konsens – das ist eine sehr wichtige Entwicklung.
Dennoch bleibt fraglich, ob das unsere Politik auch besser macht. Wollte man sich in den 70ern einmischen, so erregte man großes Aufsehen, löste Diskussionen aus, erzielte sogar Überraschungseffekte. Heute ist vieles Routine. Das Bekenntnis zu Menschenrechten ist im Westen weitgehend unbestritten, doch heißt das nicht immer auch, dass politische Schritte unternommen werden.

Kultur Joker: Was vermochte die wachsende Sensibilisierung für Menschenrechte global betrachtet? Ist unsere Welt seitdem eine bessere geworden?

Jan Eckel: Was sich auf jeden Fall verändert hat: Heute gibt es viel mehr Möglichkeiten als noch 1950, Verbrechen international zu ahnden. Es gibt wenig, das unentdeckt bleibt. Auch haben wir mehr Institutionen und eine wesentlich größere Medienberichterstattung, kurz: es ist heute prinzipiell leichter, internationalen Druck auszuüben.

Kultur Joker: Also eine Art „Weltpolizei“?

Jan Eckel: Insofern nicht, als es keine internationale Exekutive gibt, die Gewalt und Macht hätte einzugreifen. Auch bleibt die große Frage, ob man mittels humanitärer Intervention großes Unglück verhindern kann; das ist innerhalb der Länder sehr umstritten. Gegenüber dem IS wiederum ist eine solche Intervention aus politischer Sicht leichter durchsetzbar, denn hier steht – anders als 1994 in Ruanda – die eigene Sicherheit im Vordergrund. Im Kongo tobt seit zwanzig Jahren ein verheerender internationaler Bürgerkrieg, ohne dass wir dort einschreiten.

Kultur Joker: Sie nannten als Ziele Ihrer Studie die übergreifende Interpretation der internationalen Menschenrechtspolitik seit 1945 und der Ausdrucksformen dieser Politik. Was werden Ihre Ergebnisse bewirken können bzw. verhindern? Werden sie sich auf die internationale Menschenrechtspolitik oder die diplomatischen Beziehungen auswirken?

Jan Eckel: In erster Linie ist diese Publikation ein fachwissenschaftliches Buch und dient der Forschung. Natürlich würde es mich freuen, wenn sich darüberhinaus auch der ein oder andere dafür interessiert.
Die Kernbotschaft lautet, dass die Dinge komplizierter liegen, als man vermuten könnte: Menschenrechtspolitik zu betreiben, bedeutet nicht automatisch, etwas Gutes zu tun. Historisch betrachtet standen sehr verschiedene Interessen hinter ihr, sie hatte oft unvorhersehbare Folgen oder war wirkungslos. Hier nicht in Kategorien von Schwarz und Weiß zu denken, sondern ein komplexeres Bild zu entwerfen, das ist mir wichtig. Wer menschheitspolitisch handelt, sollte es in dem Bewusstsein tun, dass es in vielen Situationen keine reine Lösung gibt: Wenn man sich bei Verbrechen und Notlagen im Ausland einmischt, kann man Hilfe leisten, manchmal die Dinge aber auch verschlimmern. Die Menschenrechtsdiskussion auch aus dem Bewusstsein dieses Dilemmas zu führen, Folgen von Handlung möglichst sorgfältig abzuschätzen – das wäre ein Schritt in die richtige Richtung.

Kultur Joker: Somit müsste dieses Buch auf den Schreibtischen aller Politiker landen…

Jan Eckel: (Lacht) Dazu müsste es allerdings kürzer sein.

Kultur Joker: Haben Sie vielen Dank für das interessante Gespräch!

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Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Vandenhoeck & Ruprecht, 1. Auflage 2014, 936 Seiten, gebunden.