Im Gespräch: Lotte Thaler, künstlerische Leiterin der Badenweiler Musiktage

„Musik ist etwas für Sinne und Geist“

Spätlese“ lautet das Motto der herbstlichen „Badenweiler Musiktage“. Passend zum mediterranen Flair des Kurbads mit seinen angrenzenden Markgräfler Weinbergen. Seit über 30 Jahren ist Dr. Lotte Thaler eng mit den ursprünglichen „Römerbad-Musiktagen“ verbunden. 2018 hat sie das künstlerische Erbe des Festivalgründers und Hoteliers Klaus Lauer angetreten. Veranstaltungsort ist nicht mehr das stillgelegte Grandhotel Römerbad, sondern das Kurhaus Badenweiler. Nach wie vor hat das Niveau der kammermusikalischen Veranstaltungen Weltklasse. Vom 7. bis 10. November findet die 4. Saison der Badenweiler Musiktage unter Lotte Thaler statt. Gaby Beinhorn hat mit ihr gesprochen.

Kultur Joker: Vor dem Mai 2015 gab es eine 7-jährige Pause bei den Badenweiler Musiktagen. War das Festival tatsächlich in Gefahr, ganz von der Bildfläche zu verschwinden?

Lotte Thaler: Die Pause hing auch mit dem Wechsel von Klaus Lauer nach Bad Reichenhall zusammen, wo er das Festival „Alpenklassik“ leitete. Als er nach Badenweiler zurückkehrte, wurden die Musiktage sofort wieder aufgenommen – erst einmal, dann zwei Mal pro Jahr.

Kultur Joker: Welche Geschichte verbirgt sich hinter Ihrer Entscheidung für die künstlerische Leitung dieses Traditions-Festivals?

Lotte Thaler: Ich war den „Römerbad-Musiktagen“ und Klaus Lauer seit vielen Jahren verbunden, als Kritikerin der FAZ, später als Redakteurin beim SWR. Viele Konzerte habe ich mitgeschnitten. Deshalb war es mir eine große Ehre und Freude, als Klaus Lauer mich fragte, ob ich mir seine Nachfolge vorstellen könnte. Zumal ich Mitte 2018 in den offiziellen Ruhestand ging.

Kultur Joker: Klaus Lauer hat die Tradition des Austausches zwischen Publikum und Künstlern nach den Konzerten eingeführt. Dazu bieten die Winzer der Region im Foyer gratis ein Gläschen Wein an. Anders als in den Vorjahren saß das Publikum im Mai bei „Frühling. Erwachen“ leider auf dem Trockenen. Künstlerischer Austausch? Fehlanzeige. Bei einem Festival namens „Spätlese“ geht es hoffentlich wieder beflügelter zu, oder?

Lotte Thaler: Der Protest war so stark, dass die Winzergenossenschaften im November wieder ins Kurhaus zurückkehren werden.

Kultur Joker: Markenzeichen des Festivals ist seine persönliche Atmosphäre, gerade durch das „come together“ von Musikern und Publikum nach den Konzerten. Beginnen die Konzerte (abgesehen von Stefan Litwins vormittäglichem Gesprächskonzert) deshalb bereits um 18 Uhr?

Lotte Thaler: Ja, das hat Klaus Lauer so eingeführt, damit Publikum und Künstler sich nach den Konzerten in gemütlicher Atmosphäre austauschen können.

Kultur Joker: Die Programme, die Sie 2 mal im Jahr vorstellen, orientieren sich am alten Lauer-Format, Sie stellen klassisches Repertoire neben Zeitgenössisches, Vertrautes neben das Wilde und Neue. Inwieweit grenzen Sie sich von Ihrem Vorgänger Klaus Lauer ab?

Lotte Thaler: Das Konzept von Klaus Lauer ist eigentlich nicht zu toppen. Ich habe das historische und zeitgenössische Repertoire mit anderen Namen und Inhalten modifiziert, außerdem habe ich neue Künstler eingeladen, etwa den jungen Pianisten Frank Dupree, das Boulanger Trio, den Bariton Hans Christoph Begemann oder das Béla Quartett aus Frankreich. Eine neue Einrichtung ist zudem das Gesprächskonzert mit dem Pianisten Stefan Litwin, der bei den Herbst-Musiktagen jeweils ein herausragendes Klavierwerk erläutert und anschließend aufführt. Neu sind auch die Künstlergespräche, die ich selbst mit einem Interpreten oder Komponisten des Festivals führe.

Kultur Joker: Welches Profil hat Ihr eigenes Festival-Konzept?

Lotte Thaler: Musik ist etwas für Sinne und Geist, d.h. sie soll den Festivalbesucher beschäftigen, erfreuen und anregen. Mit meinen Programmen möchte ich Perspektiven und Zusammenhänge eröffnen, Vorurteile beseitigen, Hör-Barrieren abbauen. Ebenso wie sich die Musik im 18. und 19. Jahrhundert verändert hat, verändert sie sich auch heute. Hörend an diesem Prozess teilnehmen zu können, sehe ich als eine meiner Hauptaufgaben: Musik ist wie Literatur oder bildende Kunst eine lebendige Angelegenheit – wir lesen ja auch nicht nur Romane aus dem 18. Jahrhundert.

Kultur Joker: Wegweisende Kompositionen und herausragende KünstlerInnen der „champions league“ haben in Badenweiler für eine „international konkurrenzfähige Qualität“ gesorgt, so die Süddeutsche Zeitung vor 9 Jahren. Was sind Ihre aktuellen Highlights?

Lotte Thaler: Gleich zum Auftakt der französische Pianist Bertrand Chamayou, der vor allem mit seinen Liszt-Aufnahmen Furore machte. Dann das amerikanische Dover Quartett, das 2013 alle Preise beim Wettbewerb im kanadischen Banff abgeräumt hat und das am Curtis-Institute in Philadelphia vom legendären Guarneri-Quartett betreut wurde. Außerdem spielt das Atos-Trio, last not least die „Königin der Bratsche“: Tabea Zimmermann.

Kultur Joker: Gibt es einen kulturpolitischen Kerngedanken bei den Badenweiler Musiktagen?

Lotte Thaler: Der kulturpolitische Kerngedanke liegt seit der Gründung der Badenweiler Musiktage in der frankophilen Ausrichtung des Festivals. Französische Interpreten und Komponisten wie Pierre-Laurent Aimard oder Pierre Boulez waren Stammgäste im Hotel „Römerbad“. An dieser Linie halte ich auch fest, zumal Badenweiler als Ort der deutsch-französischen Freundschaft mit den Schriftstellern René Schickele und Annette Kolb schon nach dem 1. Weltkrieg eine Vorreiterrolle spielte. Daher war es mir eine große Freude, im Mai dieses Jahres mit Minister Guido Wolf und mit Brigitte Klinkert, Präsidentin des Départment Haut-Rhin, eine bilaterale Schirmherrschaft für die Musiktage gewinnen zu können. Diese war übrigens auch die 1. Schirmherrschaft in der Geschichte des Festivals. Kulturpolitische Bedeutung erhielt sie vor allem im Rahmen der kurz danach stattfindenden Europawahl.

Kultur Joker: „Mainstream“ sind die Badenweiler Musiktage nicht, das Festival richtet sich an ein offenes und neugieriges Publikum. Welche musikalischen Abenteuer erwarten uns bei der „Spätlese“?

Lotte Thaler: Die „Serenaden“ für Sopran, Oboe, Bratsche und Violoncello von Paul Hindemith, Hochzeitsgeschenk für seine Frau, hört man im Konzert so gut wie nie, dabei sind sie allein schon von ihrer Besetzung her besonders apart. Als Kontrast dazu das 2. Werk von Hindemith, sein 1920 entstandenes robustes Streichquartett op. 16. Ferner 2 Werke von Johannes Brahms: das von seinen 3 Quartetten am wenigsten aufgeführte, das 3. op. 67, sowie seine späte Es-Dur-Bratschensonate, der Inbegriff wehmütigen Abschieds in herbstlichen Farben. Ganz wichtig ist mir auch die Erinnerung an den erst posthum entdeckten polnisch-russischen Komponisten Mieczyslaw Weinberg, der ein kaum überschaubares Kammermusikwerk hinterlassen hat, das noch längst nicht ins Repertoire gelangt ist. Am 8. Dezember 2019 wird er 100 Jahre alt. Das Atos-Trio erinnert. Übrigens: an genau diesem Tag strahlt SWR 2 eine Sendung „Zur Person: Mieczyslaw Weinberg“ aus, mit Marc Danel als Gesprächspartner. Das Danel-Quartett hat eine Gesamteinspielung von Weinbergs Quartetten vorgelegt. Sehr oft war dieses Ensemble in Badenweiler zu Gast, zuletzt – in Klaus Lauers Abschieds-Saison – mit einem kompletten Beethoven-Zyklus.

Kultur Joker: Welche dramaturgische Idee steckt hinter den „Spätlese“-Programmen?

Lotte Thaler: Werke aufzuführen, die entweder sehr spät entdeckt wurden, wie etwa die Musik von Weinberg, Werke, die mit dem Begriff „Spätwerk“ assoziiert werden, und Werke, die vom Charakter her herbstlich sind wie etwa die „Schilflieder“ von August Klughardt: ein instrumentaler Zyklus nach Gedichten von Nikolaus Lenau, der darin den Verlust einer großen Liebe beklagt.

Kultur Joker: Wie entdecken Sie die „rising stars“, also noch unbekannte junge Künstler mit besonderen Qualitäten?

Lotte Thaler: In Konzerten, bei Wettbewerben, auf CDs, auf besondere Empfehlung, durch Beobachtung des Marktes.

Kultur Joker: Sie sind bestens mit der internationalen Musikszene vernetzt – und Sie haben ihre eigenen Vorstellungen. Nach welchen Kriterien wählen Sie Ihre Künstler und Programme aus?
Lotte Thaler: Wie bei den Programmen kommt es mir auch bei der Künstlerauswahl auf die Mischung an, also etablierte Interpreten und Nachwuchs-Solisten vorzustellen. Große Namen ziehen natürlich immer, wie wir in diesem Frühjahr mit Christian Gerhaher gesehen haben, der uns ein ausverkauftes Haus bescherte. Aber es gibt heute immer mehr junge, hochbegabte Musiker, die auf die Podien drängen. Ihnen ein Forum zu bieten, ist meiner Ansicht nach fast Pflicht jeden Veranstalters.

Kultur Joker: Am Samstagvormittag gibt es das Gesprächskonzert mit dem Pianisten Stefan Litwin. Es geht um die „Concord Sonata“ von Charles Ives. Die stellt einen ganz besonderen Bezug zur „Spätlese“ her.

Lotte Thaler: Denken Sie an den „indian summer“ an der amerikanischen Ostküste mit seinen leuchtenden Herbstfarben. Dort lebte der Schriftsteller Henry David Thoreau, den Ives in seiner Sonate porträtiert.

Kultur Joker: Tabea Zimmermann stammt aus Lahr, hat in Freiburg studiert, bevor sie als Professorin in Saarbrücken, Frankfurt und an der Berliner Musikhochschule Hanns Eisler eine ganze Dynastie von Bratschern ausgebildet hat. Wie ist es Ihnen gelungen, diese vielbeschäftigte Bratschistin für die Badenweiler Musiktage zu gewinnen?

Lotte Thaler: In zwei Anläufen. Eigentlich wollte ich sie schon früher engagieren, aber da kam es zu Termin-Kollisionen. Umso glücklicher bin ich, dass sie im November kommt.

Kultur Joker: Auch der mit Tabea Zimmermann befreundete Oboist Lucas Macias Navarro hat an der Freiburger Musikhochschule studiert, seit 2012 ist er dort selbst Professor. Spielen Künstler aus der Region für Sie eine besondere Rolle?

Lotte Thaler: Wenn es sich so ergibt wie bei Lucas Macias Navarro – natürlich. Im Frühjahr hatte ich den ehemaligen Solo-Klarinettisten des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, Kilian Herold, eingeladen, der ebenfalls eine Professur an der Freiburger Musikhochschule hat.

Kultur Joker: Wie immer gibt es auch bei der „Spätlese“ ein attraktives Begleitprogramm mit kostenfreien Einführungsvorträgen des ehemaligen SWR-Musikredakteurs Rainer Peters sowie ein Künstlergespräch zwischen Ihnen und Tabea Zimmermann. Darauf legen Sie besonderen Wert.

Lotte Thaler: Einen Künstler im Gespräch zu erleben, ist eine Bereicherung zu seinem Konzertauftritt, weil er dem Publikum noch einen Schritt näher kommt. Und Tabea Zimmermann, die ja ein „Landeskind“ ist, soll sich in Badenweiler wie zu Hause fühlen.

Kultur Joker: Sind Sie mit der Resonanz auf Ihre bisherigen Badenweiler Musiktage zufrieden?

Lotte Thaler: Da gibt es noch Luft nach oben, wie es so schön heißt.

Kultur Joker: Frau Thaler, vielen Dank für das Gespräch.

Bildquellen

  • LotteThaler041017_017: Sonja Bell