Im Gespräch: Kerstin Krieglstein, neue Rektorin der Universität Freiburg

Von der Professur für Anatomie ins Dekanat der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg, ins Rektorinnenamt der Universität Konstanz und schließlich wieder zurück in die Breisgaustadt. Seit Oktober ist Prof. Dr. Kerstin Krieglstein Rektorin der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Zu diesem Anlass kam Fabian Lutz mit ihr ins Gespräch. Ein Blick auf eine steile wie unvorhersehbare Karriere und auf zwei Herausforderungen unserer Zeit: Die Corona-Krise und der Versuch, eine geschlechtergerechte Universität zu schaffen.

UNIversalis: Frau Krieglstein, mit Ihnen ergibt sich eine historische Zäsur. Sie sind die erste amtierende Rektorin der Universität Freiburg. Was bedeutet diese neue Aufgabe für Sie?

Kerstin Krieglstein: Es freut mich riesig, diese Zäsur persönlich begleiten zu können. Es ist natürlich eine große Aufgabe, bei der mir aber auch ein großes Vertrauen entgegengebracht wird. Ich hoffe, dass diese Entscheidung auch auf andere Universitäten wirkt und weitere solcher Entscheidungen möglich macht. Dabei soll es nicht nur bei den historischen Zäsuren bleiben, sondern auch um ein neues Selbstverständnis gehen: dass es überhaupt nicht mehr ungewöhnlich ist, wenn eine Frau an der Spitze einer Institution steht. Das jedenfalls ist mein Wunsch.

UNIversalis: Professorin für Anatomie, später Dekanin der Medizinischen Fakultät, nun Rektorin. Wie empfanden Sie den Wechsel von der Wissenschaft in die akademische Selbstverwaltung? Das war sicher kein einfacher Schritt.

Kerstin Krieglstein: Professorin wurde ich aufgrund meiner Leidenschaft für Forschung und Lehre. Dafür hatte und habe ich eine starke intrinsische Motivation. Wenn man erst einmal von der Faszination Forschung gepackt wurde, ist es eben genau das, was man tun will. Dafür wollte ich für mich ebenso wie für andere Freiräume schaffen, und deshalb habe ich mich in der akademischen Selbstverwaltung engagiert. Wer diesen Weg mit allen Konsequenzen gehen will, muss dafür letztlich Forschung und Lehre aufgeben. Das ist aber keine Entscheidung, die man mal eben schnell am Tisch trifft – jedenfalls nicht, wenn man zuvor eine Wissenschaftskarriere mit Erfolg eingeschlagen hat. Bei mir war das ein schleichender Übergang.

UNIversalis: Bedingen sich der Wunsch zu forschen und Forschung zu gestalten nicht auch?

Kerstin Krieglstein: Natürlich hängt beides zusammen. Gerade um die eigene Forschungsumgebung zu verbessern, wird man in Gremien tätig und bemüht sich um die Gestaltung von Infrastrukturen. In diesen Ämtern, beispielsweise als Mitglied im Fakultätsrat oder als Dekanin, sammelt man Erfahrung, erhält hilfreiches Feedback und gelangt immer tiefer in die akademische Selbstverwaltung hinein.

UNIversalis: Ein Umschlagpunkt bei Ihnen dürfte die Wahl zur Dekanin der Medizinischen Fakultät 2014 gewesen sein.

Kerstin Krieglstein: Ja. Als ich gewählt wurde, wurde das Amt der Dekanin zugleich in eine hauptamtliche Funktion überführt. Für mich gab es ab diesem Moment also keinen Vergleich, kein Vorbild mehr. Ich hatte niemanden, an dem ich sehen konnte, was es bedeutet, dieses Amt im Hauptamt auszuüben. Auch wurde mir klar, dass es nicht mehr im selben Maße möglich sein würde, meine Forschungen fortzuführen. Dennoch habe ich ein Konzept entwickelt, wie der Wiedereinstieg in die Forschung am Ende meiner Amtszeit gelingen würde.

UNIversalis: Aber Sie blieben in der akademischen Selbstverwaltung.

Kerstin Krieglstein: Während meiner vierjährigen Amtszeit als Dekanin habe ich einige Angebote bekommen – ob ich nicht hier oder dort Dekanin werden möchte, übrigens wieder in hauptamtlicher Funktion. Da wusste ich, dass ich mein Amt in der akademischen Selbstverwaltung offensichtlich gut und sichtbar ausübe. Das war Feedback, das ich brauchte, um mich auf diesem Weg bestätigt zu fühlen. Schließlich kam die überraschende Situation, dass 2018 an der Universität Konstanz die Rektorenstelle ausgeschrieben wurde. Da dachte ich mir: Ich teste einmal meinen Marktwert und bewerbe mich. Als Dekanin der Medizinischen Fakultät übte ich in manchen Bereichen auch Tätigkeiten aus, die denen einer Rektorin äquivalent sind. Im Auswahlgespräch konnte ich auf diese Kompetenzbereiche verweisen.

UNIversalis: Und Sie hatten Erfolg.

Kerstin Krieglstein: Ja, das war eine schöne Erfahrung. Die Herausforderung habe ich gerne angenommen. Auch in diesem Amt bekam ich viel positives Feedback und habe festgestellt, dass ich mich dort sehr wohl fühle.

UNIversalis: Nach zwei Jahren waren Sie aber bereits wieder in Freiburg und traten dort die Rektorinnenstelle an.

Kerstin Krieglstein: Ich hatte keine dezidierte Strategie für meinen weiteren beruflichen Werdegang. Als sich jedoch die Chance ergab, an meiner Heimatuniversität, mit der ich seit über 10 Jahren verbunden bin, Rektorin werden zu können, liebäugelte ich sehr damit. Ich wollte es einfach einmal probieren, und es hat geklappt. Wahrscheinlich wäre ich aber hier nicht Rektorin geworden, wenn ich in Konstanz vorher nicht wichtige Qualifikationen gesammelt hätte.

UNIversalis: Neben der persönlichen Verbundenheit – was reizt Sie an der Universität Freiburg?

Kerstin Krieglstein: Die ehrliche Leistungsstärke. Es gibt viele universitäre Einrichtungen, die extrovertierter auftreten als die Universität Freiburg und bei denen die sichtbare Leistung größer als die tatsächliche ist. In Freiburg verhält es sich umgekehrt. Dort gibt es einen hohen Leistungsstandard, das Auftreten aber ist oft nah am Understatement. Die Universität Freiburg ist besser, als sie sich verkauft. Diese Attitüde gefällt mir, ebenso wie mir Qualität und Wissenschaftlichkeit der Einrichtung gefallen. Mit der umgekehrten Attitüde würde ich weniger zurechtkommen.

UNIversalis: Ihre Amtszeit begann inmitten der Corona-Krise. Auf die Universität Freiburg kamen und kommen viele Herausforderungen zu. Gerade die Lehre ist gefordert, mit flexiblen, neuen Formaten darauf zu reagieren. Sehen Sie Freiburg angesichts der Krise gut gerüstet?

Kerstin Krieglstein: Ich sehe die Universität Freiburg in dieser Situation gut aufgestellt. Die Universität setzt sich bereits seit langer Zeit mit E-Learning-Formaten auseinander. Seit 2006 sind wir beispielsweise dank der Förderprogramme „MasterOnline“ der Landesregierung führend im Angebot universitärer Online-Studiengänge in Baden-Württemberg. Die Herausforderung war aber, diese punktuellen Erfahrungen einzelner Studiengänge innerhalb kürzester Zeit auf die ganze Universität zu übertragen. Das ist uns gut gelungen – durch das enorme Engagement der Lehrenden sowie des Rechenzentrums und dort insbesondere der Abteilung E-Learning. Zum Wintersemester gilt es nun, diese Erfahrungen fortzuschreiben und Formate zu nutzen, die maximal inklusiv sind, also alle Beteiligten in einem virtuellen Lehrraum zusammenbringen. In der Corona-Krise müssen alle Lehrenden digitale Lehre leisten und umfassende Lehrkonzepte gestalten können.

UNIversalis: Wie lässt sich ein solches Lehrkonzept beschreiben?

Kerstin Krieglstein: Die Corona-Krise fordert zunächst nur den Übertritt in eine virtuelle Lehrsituation – zum Beispiel wird eine Vorlesung als Videokonferenz statt im Hörsaal gehalten. Das reicht aber nicht, da Studierende hier oft in einer zuhörenden Rolle verharren. Wir müssen uns für die Zukunft auch intensiver mit der Didaktik der virtuellen Lehre und mit den vielen verschiedenen digitalen Lehrformaten beschäftigen. Ob ich mein Seminar oder meine Vorlesung in synchronen Formaten mit Videokonferenzen gestalte oder ob ich sie asynchron anbiete, also Lehrinhalte in Videos vorab aufzeichne und den Studierenden Aufgaben stelle, die sie alleine oder in virtuellen Gruppen bearbeiten, ist dabei nur ein trivialer Teil eines großen Spektrums an Möglichkeiten. Wichtig ist, Formate zu schaffen, die die soziale Interaktion zwischen Lehrenden und Studierenden, aber auch zwischen den Studierenden fördern.

UNIversalis: Das betrifft sicher auch jene hybriden Formate zwischen Präsenzlehre und digitaler Lehre. Welchen Stellwert haben solche Formate?

Kerstin Krieglstein: Die Corona-Krise fordert uns auf, uns auch in Zukunft mit dem Besten aus beiden Welten auseinanderzusetzen, um die Lehre qualitativ und international wettbewerbsfähig weiterzuentwickeln. Hybride Lehrformate werden sicher an Bedeutung gewinnen. Sie ermöglichen eine höhere Flexibilität für Lehrende und Studierende. Es gab auch schon in den vergangenen Jahren viele Gründe, warum sich viele Studierende mehr digitale Formate gewünscht haben. Asynchrone Lehrsituationen etwa kommen Studierenden entgegen, die neben ihrem Studium arbeiten, Kinder oder andere Familienangehörige betreuen müssen. Eine andere Form der hybriden Lehre ist das zeitgleiche Zusammenarbeiten von Studierenden im Seminarraum mit Teilnehmenden, die per Videokonferenz zugeschaltet sind. Die didaktische Anforderung an Lehrende ist diesem Setting maximal hoch, da es gilt, Präsenzdidaktik mit Online-Moderation zu verbinden, um keine Teilnehmergruppe zu benachteiligen.

UNIversalis: Welche Rolle spielen innovative Lehrformate – vielleicht auch über die Gegebenheiten der Corona-Krise hinaus?

Kerstin Krieglstein: Innovative Formate wie der „Flipped Classroom“ oder „Blended Learning“ werden zum Beispiel für die internationale Lehre immer wichtiger. Gerade auf europäischer Ebene muss die Universität Freiburg bi- und multinationale Konzepte ermöglichen. Wir sind am trinationalen Universitätsverbund Eucor – The European Campus ebenso beteiligt wie an dem Konsortium EPICUR, das von der EU als Pilot für eine europäische Universität gefördert wird. Über virtuelle Formate können räumliche und zeitliche Barrieren überwunden werden. Zugleich bleibt die direkte Interaktion zwischen den Lehrenden und Studierenden aber enorm wichtig. Mein Wunsch wäre, dass wir diese Ansätze in Zukunft deutlich stärker bei der Curriculumsentwicklung aller Studiengänge nutzen.

UNIversalis: Was für Szenarien wären dann denkbar?

Kerstin Krieglstein: Studierende sollen individuell entscheiden und Lehrangebote flexibel nach den eigenen Rahmenbedingungen und Vorlieben zusammenstellen können. Hier müssen wir unbedingt in die Ermöglichungsphase treten. Angesichts der Kreativität unserer Lehrenden ich bin optimistisch, dass sich das Angebot dynamisch entwickeln wird. Bei all den Bemühungen darf es aber niemals das Ziel sein, die Präsenzlehre abzuschaffen.

UNIversalis: Sie kommen als Wissenschaftlerin aus dem naturwissenschaftlichen Bereich. Hier bleiben Frauen bis heute weiterhin unterrepräsentiert. Welche Schritte sehen Sie als notwendig, um diese Problematik anzugehen?

Kerstin Krieglstein: Wir müssen grundsätzlich für die Attraktivität der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) werben, aber auch darauf hinarbeiten, dass es keine Geschlechterdifferenzierung mehr gibt. Wir müssen dazu auch aktiv in die Verteilung eingreifen. In einer früheren Phase meiner Karriere war ich kategorisch gegen jede Quote. Mittlerweile kann ich der Quote vieles abgewinnen, auch wenn sie nicht als Lösung für jedes Problem dient. Ich glaube aber, dass wir dadurch in jedem Fall eine Sogwirkung generieren können.

UNIversalis: Sehen Sie sich über Ihre Position als Frau im männlich dominierten Wissenschaftsbetrieb für solche Problematiken eher sensibilisiert?

Kerstin Krieglstein: Auf jeden Fall. Wobei mir viele Problematiken erst im Rückblick aufgefallen sind. Wenn ich in einem Gremium sitze, wissenschaftlich arbeite oder lehre, sehe ich viele Gleichstellungsproblematiken nicht unmittelbar. In späteren Positionen konnte ich meine Erfahrungen aber oft neu bewerten. So fielen mir auch einige Probleme deutlicher auf. Für manche Qualifikationen musste ich mich etwa anders oder sogar mehr engagieren. Gerade in Bezug auf manche Berufungsverfahren wurde mir das im Nachhinein oft klar. Da blieb das Gefühl, in der Bewertung doch zu schlecht weggekommen zu sein.

UNIversalis: Können Sie von einer solchen Erfahrung erzählen?

Kerstin Krieglstein: Nachdem ich frisch habilitiert war, hatte ich mich sieben Mal auf verschiedene Stellen beworben, war aber nie eingeladen worden. Bei der achten Bewerbung wurde ich dann eingeladen und gelangte direkt auf den ersten Bewerberplatz. Von den sieben vorherigen bis zur achten Bewerbung hatten sich meine Qualifikationen allerdings nicht wesentlich verändert. Ich kann zwar nicht sagen, in welchem dieser Verfahren Voreingenommenheit eine Rolle spielte, aber dass sie eine Rolle spielte, davon gehe ich aus. Ansonsten ist der plötzliche Sprung auf den hohen Listenplatz nicht plausibel. Als ich Jahre später darüber nachdachte, kam mir der Gedanke, dass jene letzte Universität, bei der ich mich beworben hatte, wohl eine starke Gleichstellungsbeauftragte gehabt haben musste.

UNIversalis: Welche Rolle, glauben Sie, hatte diese Beauftragte im Berufungsprozess?

Kerstin Krieglstein: Diese Person hat mich sicher nicht durchgesetzt, aber über ihre Tätigkeit möglicherweise ein Milieu geschaffen, in dem Bewertungen datenbasiert, also ohne impliziten Geschlechterbias möglich wurden. Es ist wichtig, Umgebungen zu schaffen, in denen das Auswahlkriterium „Frau/Mann“ immer mehr an Bedeutung verliert. Begleiten kann man diesen Prozess dann mit einer Quote.

UNIversalis: Zum Schluss eine launische Frage: Wie viel Idealismus trägt das Rektorinnenamt?

Kerstin Krieglstein: Am Morgen viel, am Abend weniger.

UNIversalis: Liebe Frau Krieglstein, wir bedanken uns sehr für das Gespräch!

Zur Person
Kerstin Krieglstein: Jahrgang 1963, habilitierte Hirnforscherin, ehemalige Professorin für Anatomie, Direktorin der Abteilung für Molekulare Embryologie der Medizinischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Rektorin der Universität Konstanz. Seit Oktober 2020 Rektorin an der Universität Freiburg. Von der Pharmazie kam sie in die neuroanatomische, neurophysiologische und zellbiologische Forschung. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die pränatale Entwicklung des Gehirns und seiner Nervenzellen.

Bildquellen

  • Kerstin Krieglstein: Jürgen Gocke