„Hercules“ von Georg Friedrich Händel bei den Händelfestspielen in Karlsruhe

Am Ende findet die große Party statt, alle freuen sich und singen. Selbst die strenge Hausdame wirft ihr graues Kostüm ab und legt im knallroten Dress einen flotten Steptanz hin. So stellt sich Dejanira das Happy End vor, die glückliche wundersame Fügung, die ihren Göttergatten Hercules als Sternbild in die Ewigkeit befördert. Tatsächlich aber ist und bleibt Hercules tot, gestorben an dem giftgetränkten Mantel, den sie ihm geschickt hat. „Hercules“, von Georg Friedrich Händel 1744 als musikalisches Drama komponiert, sieht getreu der antiken griechischen Vorlage das entrückte Happy End vor. Aber Floris Visser, der das Stück für die Internationalen Händel-Festspiele in Karlsruhe in Szene setzte, sieht es mit den Augen von heute als Familiendrama, aus dem es kein Entkommen gibt.
Ausstatter Gideon Davey schuf dafür eine klinisch weiße Villa, halb Wohn- und halb Regierungssitz. An den antiken Mythos von Hercules, einem Nachkommen aus einer der zahlreichen Affären von Göttervater Zeus, erinnert nur das Vries im antiken Stil am umlaufenden Balkon. Visser siedelt die Heimkehr des siegreichen Helden Hercules von jahrelangen Feldzügen da an, wo unsere kollektive Erinnerung am ehesten einsetzt, nämlich am Ende des Zweiten Weltkriegs. Und während die Deutschen Händel-Solisten im Orchestergraben mit den sprichwörtlichen Pauken und Trompeten musikalisch den Sieg feiern, sieht man auf der Bühne die Brutalität der Sieger gegenüber den Besiegten. Hercules bringt Kriegsgefangene mit, alles junge Frauen, die der Willkür seiner Truppen ausgeliefert sind.
Auch die Zivilbevölkerung, angeführt von Hercules‘ Frau Dejanira, kennt kein Mitleid. Nur Hyllus, der Sohn von Hercules und Dejanira, wagt sich vor, um die Tochter des getöteten gegnerischen Königs zu schützen. Doch die schöne Iole will seine Liebe nicht. Und auch von Hercules‘ Großmut, sie in seinem Palast aufzunehmen, würde sie lieber nichts wissen. Diese Großmut erweist sich als fatal, denn Dejanira sieht genau, dass Hercules von Ioles Schönheit und Tapferkeit bezaubert ist. Es folgen Streitereien, zuschlagende Türen, sie provoziert, er greift zu Alkohol und Ohrfeigen, der Sohn leidet. Eine Scheidung des Herrscherpaars kommt leider nicht in Frage, obwohl Dejanira zwischendrin schon ihre Koffer packt.
Das ist packend inszeniert und wird glänzend gesungen und gespielt. Ann Hallenberg steht als Dejanira im Mittelpunkt. Mit ihrer herrlich runden, geschmeidigen Stimme meistert die Mezzosopranistin mühelos die virtuosesten Koloraturen. Sie vermittelt Dejaniras allzu große Liebe, die angesichts der Enttäuschung umschlägt in Eifersucht, Hass und schließlich Wahnsinn. Es ist schon irrsinnig zu glauben, man könne mithilfe eines speziellen Puders auf der Kleidung die verlorene Liebe des Ehemanns zurückgewinnen. Stattdessen stirbt Hercules qualvoll an dem Gift, das durch Mantel und Uniform hindurch seine Haut auflöst. Und Dejanira endet in der Zwangsjacke.
Visser gelingt es, Stilmittel des Films wie Zeitlupe und Rückblende in seine Inszenierung zu integrieren. Wenn Lauren Lodge-Campbell als Iole klangschön und ausdrucksvoll den Tod ihres Vaters beklagt, sieht man von der Statisterie in Zeitlupe dargestellt, wie er mit Bajonetten erstochen wird. Auch das Sterben des Hercules wird auf diese Weise drastisch vermittelt. Im laufenden Prozess gegen die angeklagte Dejanira wird durch Rückblenden erhellt, wie es soweit kommen konnte. Und das alles passt zu Händels barocker Musik.
Brandon Cedel gibt, kraftvoll in Stimme und Darstellung, den erfolgreichen jovialen Feldherrn, der sich auf die Loyalität seiner Männer verlassen kann. Er ist das Alpha-Tier, das im Kreis seiner Generäle die Landkarte neu verteilt. Die weibliche Bevölkerung schwärmt für ihn. Für den Sohn ist in dieser Familie kein Platz, an dem er sich entfalten könnte, was Moritz Kallenberg schön zum Ausdruck bringt. Der Vater ist überlebensgroß, die Mutter rasend vor Eifersucht, und Iole macht sich unerreichbar. Zwar versucht Adjutant Lichas alles, um diese Familie irgendwie zu retten, aber es ist schlicht unmöglich. James Hall spielt das großartig und glänzt noch dazu durch eine makellos geführte Countertenorstimme.
Der ausgesprochen spielfreudige, prachtvoll singende Händel-Festspielchor gibt die Nachkriegsbevölkerung, mal mitleidlos, mal anteilnehmend, aber immer mitten im Geschehen. Nach Hercules‘ Tod probt das Volk den Aufstand. Nur in Dejaniras Fantasie gibt es ein Happy End, nur sie kann den geflügelten Geist von Hercules sehen. In der Realität ist das eben noch siegreiche Königshaus am Ende, Hyllus bleibt in seiner Trauer allein. Musikalisch wird das alles eindrücklich illustriert von den Deutschen Händel-Solisten, alles versierte Spezialisten im Bereich der historisch informierten Aufführungspraxis. Unter der engagierten Leitung von Lars Ulrik Mortensen erklingt der Siegesjubel ebenso anschaulich wie das Seelenleid der Herrscherfamilie. „Hercules“ ist nicht nur für Barockfans spannend und wird bei den kommenden Händel-Festspielen vom 17.2. bis zum 2.3.2023 noch einige Male am Staatstheater Karlsruhe zu erleben sein.

Bildquellen

  • Brandon Cedel (Hercules): Foto: Falk von Traubenberg