Fluchen – Die deutsche Sprache im europäischen Vergleich

Im Gespräch: Hans-Martin Gauger über „Das Feuchte & das Schmutzige“

Das Vokabular für Flüche und Beschimpfungen ist in den einzelnen Sprachen sehr unterschiedlich, das hat der Linguist und Philologe Hans-Martin Gauger erforscht. In seinem kürzlich erschienenen Buch „Das Feuchte & das Schmutzige. Kleine Linguistik der vulgären Sprache“ schaut er sich 15 europäische Sprachen näher an, Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Niederländisch sowie etwa Ungarisch, Türkisch und Russisch. Das Ergebnis darf verwundern: überall, und vor allem in den romanischen Sprachen, wird vorzugsweise mit sexuellen Begriffen geflucht, im Deutschen treten vor allem „anale und fäkale Begriffe“ auf, wenn es um Negatives und Abwertendes geht, wenn Differenzierung verweigert und Gesprächsabbruch signalisiert wird.
Hans-Martin Gauger ist emeritierter Professor für Romanische Sprachwissenschaft und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Aus seinem detailreichen Buch, das wissenschaftliche Inhalte für Laien gut – und zum Teil gar witzig aufbereitet –, wird man über das Fluchen und Beleidigen in Europa bestens aufgeklärt und kann vieles über die Sprache insgesamt erfahren, auch mittels Beispielen aus der Weltliteratur. Mit dem Autor sprach unsere Mitarbeiterin Cornelia Frenkel.

Kultur Joker: Sie gehen in Ihrem Buch der Frage nach, inwiefern sich das Deutsche von anderen Sprachen unterscheidet. Das französische Wort „baiser“ dient als Einstieg, um darzulegen, wie eine Bezeichnung für Sexuelles und Zärtliches ins Vulgäre kippt und für Negatives steht, nämlich Hereingelegt-Werden oder Betrogen-Sein.
H-M Gauger: Ja richtig, mich hat in der Tat die Sonderrolle oder der Sonderweg des Deutschen interessiert. Im Französischen heißt „baiser“ zuallererst „küssen“ und das heißt es auch immer noch; dann aber meint es, in vulgärer Absicht, den sexuellen Akt und schließlich, dies hat mich besonders interessiert, bedeutet es – ganz negativ gemeint – hereinlegen, auch wieder vulgär, betrügen oder passiv: Hereingelegt-Werden.
Kultur Joker: Doch Französisch steht in puncto Fluchen dem Deutschen sogar am nächsten, insofern hier das „Schmutzige“ und das „Feuchte“ oft alternativ fungieren, während im Deutschen das Sexuelle weitgehend unbenutzt oder gar „unbeschmutzt“ bleibt?
H-M Gauger: Ja, das Französische steht dem Deutschen in diesem Punkt nahe, näher als alle übrigen romanischen Sprachen und andere Sprachen, die ich heranziehe, weil im Französischen mehr fäkalische Ausdrücke gebraucht werden als dies in den anderen Sprachen der Fall ist. Das hängt sicher damit zusammen, dass das Französische unter allen romanischen Sprachen am stärksten durch das Germanische beeinflusst wurde, durch die Franken, die hier eingedrungen sind und das Land bis zur Loire, in abnehmender Dichte nach Süden hin, besiedelt haben. Frankreich ist das einzige Land romanischer Sprache, das einen germanischen Namen hat – das Land der Franken. Insofern ist es weniger erstaunlich, dass ähnliche Verhältnisse beim Fluchen vorliegen wie im Deutschen. Z.B. ist „merde“ im Französischen ein sehr häufig gebrauchtes Wort und davon abgeleitet das Verb „emmerder“, es heißt belästigen und langweilen (nicht etwa bescheißen) – völlig übliche vulgäre Ausdrücke. Und für das Französische bleibt zu beachten, dass die Grenze zwischen dem Vulgären und dem bloß Familiären nicht so strikt ist.

Kultur Joker: Kraftworte, die sich auf Sexualität oder Prostitution beziehen, gibt es in allen Sprachen; doch wo etwa im Englischen, Spanischen, Niederländischen sexuell geflucht wird (z.B. „fuck up“), taucht im Deutschen nahezu immer Fäkales auf: „verpiss Dich!“, „am Arsch sein“ und andere Trabanten des derben Wortfelds.
H-M Gauger: Derbe sexuelle Wörter tauchen im Deutschen nur auf, wenn es wirklich um Sexuelles geht, sie werden jedoch kaum herangezogen, wenn es um Negatives geht. Aber genau dies geschieht ausgiebig in den anderen Sprachen, die ich betrachtet habe. Das Niederländische scheint hier besonders interessant, weil es – unter allen Sprachen – dem Deutschen am nächsten steht, näher noch als das Englische. Und doch sind die Verhältnisse hier völlig anders, denn die Niederländer benützen ständig sexuelle Ausdrücke, wenn es um Negatives geht. Wo wir etwa sagen „ich fühle mich beschissen“, da sagen sie „ich fühle mich mösig“ oder „ich fühle mich hodig!“.
Kultur Joker: Hände und Finger ersetzen mitunter die akustische sprachliche Verständigung, dabei sind solche Gesten kulturell geprägt, etwa das Zählen (der Deutsche fängt mit dem Daumen an, der Spanier mit dem kleinen Finger) oder das Hochstrecken des Mittelfingers der rechten Hand – eine sexuelle Gebärde; doch im Deutschen wird daraus der „Stinkefinger“. Ein Beleg für Ihre These?
H-M Gauger: Ich habe den Eindruck, dass dies ein starker Beleg ist, denn hier geht es klar um ein Symbol, eine Art Verbildlichung des männlichen Sexualorgans, und daraus wird bei uns, klassischer deutscher Vorgang, ganz unbewusst etwas Exkrementelles gemacht, der „Stinkefinger“, niemand stößt sich daran.
Kultur Joker: Als weiteren Blick auf das Thema wählen Sie die Fußballweltmeisterschaft 2006, in deren Verlauf der französische Fußballheld Zinedine Zidane sich vom gegnerischen Spieler Materazzi beleidigt sah. In der deutschen Presse blieb der Vorgang zunächst unverstanden, stellen Sie fest. Warum?
H-M Gauger: Anfangs wusste man gar nicht, was Materazzi gesagt hat, man wusste nur, dass es für Zidane, nordafrikanischer Herkunft, stark beleidigend war; erst später erklärte Materazzi zerknirscht, was er gesagt hat. Der Hergang war anscheinend so: Materazzi hat Zidane am Hemd gezogen und dieser äußerte, „Wenn dir mein Hemd so gefällt, dann kannst du es nachher haben!“; worauf Materazzi antwortete: „Ich will lieber deine Schwester, die Nutte!“. Das empfand Zidane als Beleidigung und er versetzte Materazzi schließlich einen Kopfstoß in den Bauch, was zum Platzverweis führte. Materazzi hat sich danach entschuldigt, er habe doch bloß gesagt, was jedem da als erstes einfalle. Einem Deutschen wäre das aber nicht eingefallen (er hätte vermutlich gesagt, „Hau ab, Du Arschloch!“).
Kultur Joker: Das Fluchen bedient sich, neben dem Sexuellen und Exkrementellen, noch anderer Sachbereiche, z.B. der Tierwelt (Hund, Esel), des Unwetters (Donner, Blitz) und des Religiösen. Letzteres (Teufel, Hölle) wird im Schwedischen vorrangig eingesetzt, wenn man „Luft ablässt“; im Deutschen rangiert das Religiöse beim Fluchen gleich nach dem Fäkalen, also noch vor dem Sexuellen?
H-M Gauger: Das Religiöse spielt da selbstverständlich eine Rolle, denn es geht beim Fluchen und Beleidigen immer um Tabuverletzungen. Wenn also, vor allem in katholischen Ländern, z.B. die Jungfrau Maria beschimpft wird, ist das eine starke Tabuverletzung, für Protestanten kommt dies weniger in Frage. Besonders das Schwedische hantiert gerne mit Satan und Hölle und steht dem Deutschen insofern nahe, als es das Sexuelle fast ganz vermeidet.
Kultur Joker: Das Ausklammern oder Verdrängen des Sexuellen im Deutschen zeigt sich etwa am Beispiel des spanischen Wortes „carajo“, es ist eine Bezeichnung für das männliche Sexualorgan; doch eingewandert in die deutsche Sprache wird daraus „mit Karacho“, ein harmloses Wort für hohe Geschwindigkeit.
H-M Gauger: Richtig, dies geht, wenn es vielleicht auch kein Beleg ist, in die gleiche Richtung. Das Wort „carajo“, das im Spanischen sehr häufig ist, kam – laut Wörterbuch – über Seeleute in Hamburg ins Deutsche herein; sodann bezeichnet es motorisierte Geschwindigkeit, nimmt also den Beiklang von sportlich, schmissig, allerhöchstens unvorsichtig an, hat also mit der spanischen Wortbedeutung nichts mehr zu tun.
Kultur Joker: Sie benennen zwei Abweichungen im Deutschen, eine räumliche im Südwesten (Beispiel ist das alemannische „Seckel“) und eine zeitliche, nämlich in der Jugendsprache, deren Vulgarität zunehmend sexuell geprägt ist, indem etwa der „abgefuckte Wichser“ das „Arschloch“ ersetzt.
H-M Gauger: Bei der Jugend haben wir so einen Einbruch, aber man muss dazu sagen, einen relativ mäßigen – nicht sehr viel, aber etwas ist da, z.B. „fick dich ins Knie“, „abgefuckt“, aus dem Englischen, aber eben, auch das gehört zu diesem Dossier, das englische „fuck“ taucht überall auf. Da passt sich die Jugend ein Stück weit an. Und dann haben wir im südwestdeutschen Sprachraum eine Abweichung, vor allem in der Tat mit dem Wort „Seckel“ (bereits in Bayern unbekannt); es bezeichnet das männliche Sexualorgan, ob nun teilweise oder ganz – da gibt es verschiedene Auskünfte. Auf jeden Fall wird hier die männliche Sexualverfassung für Beschimpfung herangezogen und nicht die weibliche, das ist – etwa im Vergleich zum Französischen (wo ständig mit „con“ beschimpft wird) – fast lobend zu erwähnen, denn man flucht über den Mann und lässt die Frau außen vor; überhaupt fluchen Männer ja insgesamt mehr und sie fluchen mehr über Männer als über das andere Geschlecht. Es gibt weniger negative Ausdrücke für Frauen als für Männer, für die eine lange Liste an Tierbezeichnungen existiert.
Kultur Joker: Sie verzichten – wissenschaftlich korrekt – auf eine Erklärung für den deutschen „Sonderweg“; die deutsche Sprache lässt sich schließlich nicht einem „Nationalcharakter“ zuordnen, sie wird auch in Österreich und in der Schweiz gesprochen. Der Befund aber ist klar, das Deutsche unterscheidet sich durch seine Obsession für fäkale Metaphern von anderen Sprachen. Ist nicht historisch zu bedenken: Die „Sprache“ der Nazis gilt als anal geprägt, permanent waren „Dreck“, „Gestank“, „Judenschweine“ loszuwerden; auch darüber hinaus wurde eine „Analfixierung“ (für Freud mögliche Folge zwanghafter Sauberkeitserziehung) der Deutschen hypostasiert? Lassen sich diese psychologischen Aspekte hier ignorieren?
H-M Gauger: Zum ersten, Sie sagen „wissenschaftlich korrekt“, es ist eben so, dass ich nur beschreiben wollte und keine Erklärung weiß, keine gefunden habe, die mich überzeugt hätte. Man weiß es nicht, es wäre nicht schlecht, wenn man es wüsste. Vermutlich hat sich dies schon im frühen Mittelalter eingestellt. Mit dem Psychologisieren bin ich sehr vorsichtig, der amerikanische Volkskundler Alan Dundes hat das gemacht, das halte ich für vorschnell, es lässt sich nicht beweisen, vor allem deshalb nicht, weil die Deutschen dann, wenn sie Sexuelles meinen, keineswegs hinter den anderen Sprachen zurückbleiben. Ernest Bornemann hat in zwei Wörterbüchern Bezeichnungen für Sexuelles gesammelt und stellte fest, dass es dem Deutschen hier an nichts mangelt. Nur wenn es um die Übertragung von Sexuellem auf Negatives geht, schreckt er zurück.
Kultur Joker: Wir bedanken uns für das Gespräch.

Literatur: Hans-Martin Gauger. Das Feuchte & das Schmutzige. Kleine Linguistik der vulgären Sprache. Verlag C.H. Beck. München 2012.

Der Autor liest am 18. 3. in Freiburg aus seinem Buch: Blumenbinderin, Nägeleseestr. 4. Tel 0761/7076493