Europäischer Tag der Jüdischen Kultur: Gedenkstätten und Museen laden weiterhin zur Begegnung ein

Der Europäische Tag der jüdischen Kultur, der jährlich am ersten Sonntag im September in rund dreißig Ländern stattfindet, stand in diesem Jahr unter dem Motto DIALOG und fand im Rahmen des sogenannten NOA-Projekts (noa-project.eu) statt. Dieses möchte positive Narrative über die jüdische Kultur in Europa fördern und den Beitrag des europäischen Judentums zu einem „pluralistischen und integrativen Europa“ sichtbar machen. Auch diesmal beteiligen sich Gedenkstätten, Museen und jüdische Gemeinden an vielen Orten in Baden-Württemberg und im Elsass mit einem Programm, das jüdische Geschichte, Kultur und Traditionen in Vergangenheit und Gegenwart beleuchtet. An beiden Rheinufern, zwischen Basel, Straßburg und Karlsruhe, waren die Beziehungen der jüdischen Gemeinden untereinander und zur regionalen Kultur stets sehr eng. Von Konstanz über Lörrach, Emmendingen, Freiburg und Breisach wurden Stadtrundgänge, Klezmer-Konzerte, Buchvorstellungen, Filme, Vorträge und Kulinarisches geboten.

Claude Vigée – Maison des Arts in Bischwiller/Elsass © VilleBischwiller

Ausstellung 100. Geburtstag von Claude Vigée – Maison des arts in Bischwiller / Elsass

„Vor uns nichts als die leere Nacht, hinter uns die Jagd auf den Menschen“, so heißt es in einem Gedicht des Schriftstellers Claude Vigée, 1921 als Claude Strauss im elsässischen Bischwiller geboren und 2020 in Paris verstorben. Seine Sprachen waren Französisch, Elsässisch und Westjiddisch. In Bischwiller verbrachte er seine Jugend, ging aufs Gymnasium in Straßburg, bis ihn 1940 der Einmarsch deutscher Truppen in die Flucht trieb. In Toulouse begann er ein Studium der Medizin, bevor er sich der Résistance anschloss; in diesem Zusammenhang nahm er den Namen Vigée an (in Anspielung auf „Vie, j’ai“, d.h. „Ich habe Leben“). In der klandestinen Zeitschrift „Poesie 42“ veröffentlichte er erste Gedicht; 1943 floh er in die USA, wo er in Romanistik promovierte. Von 1960 bis 2001 lebte und lehrte er in Jerusalem, danach in Paris. Vigées Dichtung befasst sich u.a. mit den Leiden der Juden und der Sehnsucht nach Frieden und einem einfachen Leben; ohne Bitterkeit kehrt zudem das Motiv des Vergänglichen wieder. Vigée erhielt in späteren Jahren viele Ehrungen. Eine Ausstellung in seiner Heimatstadt lässt den Besucher in sein Werk eintauchen, Exil, Krieg, Reisen, sein geliebtes Elsass, Familie und Freunde kennenlernen – anhand von Briefen, Werken, Fotografien und persönlichen Gegenständen. Die Hoffnung und das Schreiben waren seine Zuflucht.
• Claude Vigée. „Une vie entre les lignes“. Maison des Arts. 19 rue des Charrons. F – 67241 Bischwiller. Fr, Sa, So 14-18 h. Führungen sonntags 14 h. Begleitprogramm: www.bischwiller.com. Bis 17. Oktober 2021

Musée Judéo-Alsacien in Bouxwiller / Nordelsass

Fünfzehn Kilometer von Saverne entfernt befindet sich das zauberhafte Städtchen Bouxwiller; seine Synagoge, nun Musée Judéo-Alsacien, ist ein authentischer Erinnerungsort für die Kultur- und Architekturgeschichte der Juden im Elsass. Meist waren die Landjuden in Bouxwiller arm, arbeiteten als Hausierer, Schlachter und Viehhändler; aber sie hatten Traditionen, waren unerschütterlich in ihrem Glauben und voller Zuversicht auf ein gnädiges Schicksal, die sich jedoch oft nicht erfüllte. Die Dauerausstellung des Musée befasst sich mit deren Berufen, Feiern, Ritualen und sprachlichen Besonderheiten; unter den Exponaten befindet sich neben Dokumenten, Videos und inszenierten Alltagssituationen u.a. eine Replik des Straßburger Grüselhorns, mit dem Juden im Mittelalter am Abend zum Verlassen der Stadt aufgefordert wurden. Texttafeln informieren über die Geschichte Jüdischer Gemeinden im Elsass seit dem 12. Jahrhundert; im 14. Jahrhundert gab es Vertreibungen, im 15. erfolgte das Verbot, in Städten zu wohnen. Ein Emanzipationserlass von 1791 machte es ihnen in Frankreich möglich, sich überall niederzulassen und Berufe auszuüben; schließlich wurden sie 1831 den Christen rechtlich gleichgestellt. Somit ergaben sich soziale Aufstiegsmöglichkeiten, z. B. in Schule und Militär, viele verließen nun die Provinz, zogen nach Paris oder wanderten nach Afrika und Amerika aus. Im Juni 1940 beginnt in Elsass-Lothringen die Wagner-Bürckel Aktion, die jüdische Bevölkerung wird von der deutschen NS-Besatzung enteignet und vertrieben, womit bekanntlich ein harter und oft tödlich endender Überlebenskampf beginnt. Doch in Straßburg existiert heute einer der größten jüdischen Gemeinden Europas.
• Musée Judéo-Alsacien. Bouxwiller. Ganzjährig geöffnet. Tel: 00 33 (0) 3 88709717. museejudeoalsacien@gmail.com. http:/judaisme.sdv.fr/today/musee

„Lily et les siens“ – Auf den Spuren einer ausgelöschten Familie
Musée Historique Mulhouse

Die erhellenden historischen Dokumente ruhten viel zu lange in einem Koffer, aufbewahrt hatte ihn Lilys Cousin David Gerson (*1937), der das Glück hatte, noch rechtzeitig mit seiner Mutter zu fliehen und in Frankreich versteckt zu werden. Lily Ebstein, 1920 in Mulhouse geboren, war Textilzeichnerin, sie gehört zu den rund vierhundert jüdischen Opfern ihrer Heimatstadt, die im Zuge der Schoáh ermordet wurden, darunter ihr Bruder Raymond und ihre Eltern Jules Ebstein und Jeanne (geborene Bergheim). Eine Ausstellung im Musée Historique geht den Spuren und Etappen der Existenz dieser Familie nach, von Mulhouse nach Vichy, von Drancy nach Auschwitz. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs fliehen sie nach Vichy, mit der Annexion von Elsass-Lothringen und der Einführung von Judengesetzen kompliziert sich ihre Lage zunehmend; im November 1942 besetzten die Nazis ganz Frankreich, 1943 wurden die Ebsteins denunziert und deportiert. Dokumente (Briefe, Fotos, textile Zeichnungen) aus dem Familienarchiv begleiten die informativen Tafeln der Ausstellung. Von Lily Ebstein sind zudem Entwurfszeichnungen aus dem Bestand des Stoffmuseums Mulhouse zu sehen; ihre sensiblen künstlerischen Werke beeindrucken, und man empfindet Trauer und Wut angesichts dieses perfiden Schicksals.
• Lily et les siens. Une famille juive mulhousienne. Musée Historique. Hôtel de ville. Place de la Réunion. F – 68100 Mulhouse. Tägl. außer Di. 13-18.30 h. www.musees-mulhouse.fr. Bis 26. September 2021

Bildquellen

  • Claude Vigée – Maison des Arts in Bischwiller/Elsass: © VilleBischwiller
  • „Lily et les siens“-Ausstellung im Musée Historique Mulhouse: Foto: Musée Historique Mulhouse