Ein brillanter „Barbier von Sevilla“ mit Klappmaulpuppen am Basler Schauspielhaus

Am Ende sind alle glücklich. Die Haushälterin Berta schnappt sich neben ihrem Staubwedel auch den Musiklehrer Don Basilio und drückt ihm einen langen Kuss ins zerfurchte Gesicht. Graf Almaviva hat endlich seine Rosina im Arm, die im rosa Taftkleid einer besseren Zukunft entgegensieht. Und auch Figaro schaut mit seinen Glubschaugen zufrieden in den voll besetzten Zuschauerraum des Basler Schauspielhauses. Nur Doktor Bartolo lehnt sich frustriert über das Treppengeländer. Sein Toupet ist im temporeichen Durcheinander des Finales verloren gegangen. Auf dem kahlen Kopf vereinsamen ein paar Resthaare. Die Vitalität des agilen Greises, der zwei Akte lang über sein Mündel Rosina gewacht hat, ist dahin. Das vom Basler Publikum frenetisch gefeierte, musikalisch vibrierende Happy End von Gioachino Rossinis Oper „Der Barbier von Sevilla“ hat einen Verlierer.
Sonst gibt es an diesem brillanten, fantasievollen, witzigen, aber in Momenten auch verstörenden Abend nur Gewinner. Die Produktion des Basler Theaters zum 15-jährigen Bestehen seines Opernstudios OperAvenir unter der musikalischen Leitung von Hélio Vida macht glücklich. Schon bei der Ouvertüre des auf der linken Bühnenhälfte positionierten 15-köpfigen Instrumentalensembles der Basler Musikhochschule (Bearbeitung: Alexander Krampe) werden Endorphine ausgeschüttet. Vom Hammerflügel aus dirigiert Vida mit klarer Zeichengebung. Und wählt für den schnellen Teil der Ouvertüre ein flottes Tempo, das die atemberaubende Motorik dieser Oper von Beginn an gekonnt in Szene setzt. Die Darsteller werden auf dem Kleiderständer hereingefahren. Da hängen sie, die Klappmaulpuppen von Nikolaus Habjan, noch schlaff und unbelebt. Die erste ergreift der Tenor Ronan Caillet gemeinsam mit dem Puppenspieler Stephan Eberhard. Graf Almaviva hat dichtes schwarzes Haar, ein scharf geschnittenes Gesicht und einen knallroten Mund, den der Sänger ganz synchron zu seiner Artikulation bewegt. Ein kurzes Räuspern – dann stimmt dieser Graf mit Caillets warmem, hellem Tenor die Cavatina „Ecco, ridente in cielo“ (Sieh schon die Morgenröte) an. Und wartet vergeblich darauf, dass sich Rosina auf der Wendeltreppe zeigt (Bühne: Jakob Brossmann, Kostüme: Denise Heschl).
Das virtuose, handwerklich perfekt umgesetzte Spiel von Regisseur und Puppenbauer Nikolaus Habjan nimmt seinen Lauf. Jeder der sieben Sängerinnen und Sänger, fünf davon Mitglieder des Opernstudios, führt auch eine Puppe. Mal alleine wie der großartige, mit profundem Bassbariton ausgestattete Diego Savini als rüstiger Bartolo, mal zu zweit oder zu dritt. Dem Rollenspiel der turbulenten Opera Buffa, dessen typenhaftes Personal der Commedia dell’arte entstammen könnte, wird kunstvoll noch die weitere Ebene zwischen Sänger und Puppe hinzugefügt. Da kann es auch mal Zickenalarm geben wie bei Rosinas erstem Auftritt „Una voce poco fa“ (Frag‘ ich mein beklommen Herz), wenn zu den von Nataliia Kukhar perfekt modellierten Koloraturen auch ein paar Handgreiflichkeiten zwischen den beiden Rosinas ausgetragen werden. Oder sie sind best buddies wie der sonor tönende Kyo Choi und sein eitler Figaro mit Künstlerschal. Die vom inspirierten Klavierspiel Vidas erfrischten Rezitative werden durch die Doppelung der Figur zusätzlich belebt.Die Protagonisten können sogar gleichzeitig knutschen und singen wie im zweiten Finale – die leidenschaftliche Liebe zwischen Rosina und Almaviva kann sich hier endlich Bahn brechen.
Der österreichische Regisseur entdeckt in diesem „Barbier von Sevilla“ aber auch Abgründiges. Die Annäherungsversuche von Bartolo gegenüber Rosina werden zu brutalen Übergriffen. Ihre Puppenspielerin wehrt sich am Ende mit einer Ohrfeige. Don Basilio (Jasin Rammal-Rykala) ist ein Horrorclown, dessen meterlange Zunge in der Arie „La calunnia è un venticello“ (Die Verleumdung ist ein Lüftchen) auch zu einem strangulierenden Strick werden kann. Zum ersten Finale dreht sich auf der dunklen Bühne die Wendeltreppe, während die Soldaten (Choreinstudierung: Michael Clark) stumpfsinnig im Kreis laufen (Offizier und Fiorello: Vinicius Costa da Silva) und die Mechanik der Musik durch das zugespitzte Spiel im Orchester in Hysterie ausartet. Auch das macht die Stärke von Habjans Inszenierung aus. Sie ist zutiefst musikalisch, sie verstärkt in der Partitur Angelegtes und schafft auch Raum für ganz ruhige Momente wie in der von Inna Fedoriis berührendem Sopran veredelten Arie „Il vecchiotto cerca moglie“ (Sich vermählen will der Alte), in der die resolute Berta ganz melancholisch wird. Und sich auch nach der Liebe sehnt. Aber da gibt es ja noch Don Basilio…

Weitere Vorstellungen: 14./16./18./23. Juni 2022 im Schauspielhaus, www.theater-basel.ch

Bildquellen

  • Kyo Choi und sein eitler Figaro mit Künstlerschal: Foto: Ingo Höhn