Das Klassenzimmerstück „Popcorn“ feierte Premiere im Theater im Marienbad

Schillernde Seelenschau, mal wild und rebellisch, mal traurig, voller Zweifel und Sehnsucht – dabei über sechzig Minuten lang mit soviel Intensität und Dynamik auf die Kesselhaus-Bühne des Theaters im Marienbad gebracht, dass es einen mühelos einsaugt und mitwirbelt. – „Popcorn“, so der Titel dieses tollen Klassenzimmerstücks, das Regisseurin Carina Eberle und Dramaturgin Sonja Karadza gemeinsam mit dem jüngsten Ensemble-Mitglied Julia-Sofia Schulze entwickelt haben, letztere gibt bei ihrem Monolog mit Handy und Soundtrack alles.
Ganz cool mit Sonnenbrille, durchsichtiger Regenjacke und Pumphose aus glitzernder Ballonseide schält sie sich aus dem Publikum und entert zu Alice Mertons „No Roots“ die Bühne: Spotlights, Scheinwerfer, Julia Sofia Franziska ist berühmt, gigantisch – „Weiß nur noch niemand“, kommentiert sie ihren Möchtegern-Star-Auftritt staubtrocken und rollt sich wenig später unter der lang von der Kesselhausdecke hängenden Schaukel mit Plüschsitz zusammen. Schlafenszeit. Doch „die Dinge verschieben sich sich in die Nacht – nicht gut…“. Handy her, Handy weg, 34 Pickelvideos in der timeline, dazu Gegrübel über Geld, Hosen, Hausaufgaben, Kalorien – Sorgen, Sorgen, Sorgen. Schnell geschnittenes Gedankengestöber und rasante Gefühlsachterbahn von einer, die einsam ist, aber wer gibt das schon zu: „Könnte ich mir ja gleich LOSER auf die Stirn schreiben.“
Unterkriegen lässt sie sich bei aller Verletzlichkeit nicht, immer wieder reißt sie ihren Körper zurück in kraftvolle Lebendigkeit: Ganz wild tanzen, ganz hoch schaukeln und fliegen! Wenn es langweilig wird, isst sie. Wenn die Sehnsucht nach Wärme, Kontakt und echten Gefühlen übermächtig wird, ritzt sie sich (hier als Linie mit schwarzem Stift). Dazwischen ist sie sich selbst genug, Fantasie ist ein mächtiger Fallschirm: So zoomt sie sich ins Popcorn in der Mikrowelle („Jeder poppt zu seiner Zeit“), spielt mit viel Komik Durchstarter, Ängstliche und Verweigerer während ihrer Metamorphose vom harten Kern zur extrovertierten Flocke. Denn was, wenn man wie Julia Sofia Franziska gar nicht sein Inneres nach Außen stülpen will? Oder wenn bei der sehr witzigen Szene à la Otto Waalkes das Angstzentrum Amygdala gegen Großhirn, Sehnerv, Klingelfinger und tanzlustige Hüfte verliert und sie vor der Tür zur Geburtstagsparty wieder abdreht? – Clownerie über die Poesie des Scheiterns.
Dabei sollte eigentlich das Leben sein wie im Film – so WOW! So WHOOSH! So BANG! Die Haare flattern lassen in Las Vegas, die beste Freundin liebevoll bekochen, sich verlieben und wissen, es ist für immer…. Ein Kaleidoskop ganz unterschiedlicher Mini-Momente setzt Julia-Sofia Schulze im Spagat zwischen Traum und Realität in Szene, erzählt von Klischees, Ansprüchen und Enttäuschungen, von Familie und einer ungerechten, brutalen Welt. Immer wieder blitzt aus den Brüchen Verzweiflung, dunkel wird es trotzdem nicht. Bis sie den schwarzen Vorhang an der Bühnenrückwand zur Seite zieht und an einer Wandleiter aus der nur mit wenigen Leuchtquadern ausgestattete Bühnenschachtel (Bühne, Kostüm: Carina Eberle, Bernhard Ott) klettert. Hoch oben öffnet sie ein Fenster: Himmel, Amselgesang… Ein pralles Mutmachstück mit nur wenigen Längen, ebenso sensibel wie eindringlich. Die Umsetzung im Klassenzimmer stellt man sich schwierig vor – wahrscheinlich ja ohne Schaukel und Kletterfenster…

Weitere Vorstellungen: 11. Juni,  19 Uhr, Theater im Marienbad, Freiburg. Ab 13 Jahren. Infos unter www.marienbad.org

Bildquellen

  • Intensiv und dynamisch: Julia-Sofia Schulze in „Popcorn“: Foto: MiNZ&KUNST Photography