Die Immoralisten inszenieren „Mrs Dalloway“ von Virginia Woolf

Achtung vor dem Abgrund

Virginia Woolf prägte den als „Stream of Consciousness“ bekannten Erzählstil. Das Freiburger Theater der Immoralisten greift diesen in seiner Inszenierung von „Mrs Dalloway“ nicht nur auf, sondern verfeinert ihn gar – Bezugnahme auf aktuelle Phänomene wie den Brexit inklusive. Bei der Premiere gibt es dafür zurecht langanhaltenden Applaus.

„Mind the gap“, tönt es aus den Lautsprechern. Eine Routine-Ansage, die überall in der Welt beim Aussteigen vor der Kluft zwischen U-Bahn und Bahnsteig warnt. Nichts Außergewöhn­liches also. Die beiden Insassen der Londoner U-Bahn an der Bond Street Clarissa Dalloway, die 52-jährige Ehefrau des britischen Abgeordneten Richard Dalloway, und der neben ihr sitzende traumatisier­te Kriegsveteran Septimus Warren Smith zucken jedoch zusammen…

Clarissa plant für den Abend in ihrem Haus in London eine Dinnerparty. Eingeladen sind auch zwei Menschen, die ihr einst sehr nahestanden: Ihre Jugendfreundin Sally Seton und ihre erste Liebe Peter Walsh, dessen Antrag sie als 19-Jährige ausgeschlagen hatte. Während der Vorbereitungen verwebt sich die Gegenwart mit der Vergangenheit und den verpassten „Exits“ und mündet schließlich in eine ernüchterte Zukunft.

In Virginia Woolfs Roman von 1925 verknüpfen sich die Handlungsfäden in der Figur des ebenfalls geladenen Psychiaters Dr. Bradshaw, der auch den depressiven Septimus behandelt: Jenen Kriegsveteranen, der im Einsatz seinem Kamera­den und Geliebten die Zunei­gung verwehrte und kurz darauf miterleben musste, als dieser von einer Granate in Stücke gerissen wurde. Seitdem wird er die quälenden Stimmen in seinem Kopf nicht los. Wetter erzählt diese Sequenz ausführlich, versetzt aber die gesamte Handlung von 1923 in die Aktualität: Die Erzähl- und Gedankenstränge verzweigen sich von einer U-Bahn-Fahrt aus. Mr Dalloway arbeitet sich am Brexit ab – ein netter Kunstgriff, der neben dem Aktualitätsbezug ein weiteres Bild für die verpassten Chancen der Protagonisten schafft.

Wenn sich in den Figuren die Bewusstseinsströme manifestie­ren, so ruft das auch – mind the gap – beim Zuschauer die Abgründe ins Bewusstsein. Jene letzte Nacht etwa, immer und immer wieder spult Septimus sie in seinem Kopf ab (dies hörbar quietschende Zurückspulen der Zeit ist Teil der Inszenierung: genial!). Sie endet einfach immer wieder da, wo es so weh tut. In Clarissa Dalloways Kopf äußern sich die laufenden Bewusst­seins­ströme vergleichs­weise laut, halten sich vorerst an nichtigen Dingen auf. Anfangs funktioniert ihre Verdrängung noch. Als ihr aber die Vergangenheit mehr und mehr zu Leibe rückt, wird sie zum Indikator und Spiegel für das, was sich in Septimus schweigend und leidend vollzieht.

Das Stück heißt zwar „Mrs. Dalloway“, handelt aber genauso von der Tragik des Septimus. Der „Stream of Consciousness“ genannte Erzählstil Woolfs zeichnet diesen Roman als Klassiker der modernen Literatur aus. Die Immoralisten ­(Regie: Manuel Kreitmeier; Ton und Musik: Hannah Schwegler) haben ihn in Florian Wetters Fassung nicht nur gewahrt, sondern gar verfeinert – nicht zuletzt durch das feinnervige Spiel des Ensembles: Mitreißend verkörpert Anna Tomicsek ihre Mrs Dalloway.

Für den Septimius hätte es keinen besseren geben können als Jochen Kruß. Differenziert zeigt Lena Müller (neu im Ensemble, tolle Ausstrahlung) die Verwandlung ihrer Sally Seton auf. Florian Wetter als Jugendfreund, Uli Winterhager als Brexit-Muffler, Christina Beer und Sebastian Ridder in Mehrfachbesetzung (letzterer urkomisch als Psychiater) – sie alle brachten Bühne und Emotionen zum Beben. Großer, langanhaltender Premierenapplaus.

Was: Schauspiel: Mrs Dalloway nach Virginia Woolf
Wann: bis 29. Juni, jeweils Do, Fr, Sa um 20 Uhr.
Wo: Theater der Immoralisten, Ferdinand-Weiß-Straße 9-11, 79106 Freiburg
Web: www.immoralisten.de

Bildquellen

  • kultur_joker_theater_immoralisten_mrs_dalloway: Theater der Immoralisten