Die Angströhre im Nesenbachtal

Qualität und Schärfe der Argumente gegen die Stuttgarter Bahnhofspläne spitzen sich zu. Im Mai, auf der 220. „Montags-Demo“ gegen „S 21“ protestierte Schriftsteller Jürgen Lodemann nicht nur gegen die Wirtschaftskriminalität, sondern auch gegen die Lebensgefährlichkeit des Tiefbahnhofs.

Liebe Freunde des Kopfes – Stuttgarts Bahnhof kenne ich seit über 70 Jahren, seit ich Kind war in Essen, in der Krupp-Stadt, damals Europas größter Bergbaustadt. Weil es 1940 Penicillin noch nicht gab, musste ich mit meiner Lungen-TB immer mal in die Alpen, in die damals bessere Luft. Das ging per Bahn, und über Stuttgart, und ich höre noch, wie die Mutter, als sie gefragt wurde, wie sie das schaffe, so oft so lange Fahrten mit einem 4- bis 7jährigen, da hör ich sie noch reden: „Man muss ihn ja nur ans Fenster setzen, dann ist er still.“ Der rasende Reisende, auch heute noch kann er in Kopfbahnhöfen kurz zur Besinnung kommen, damals war bei mir in Stuttgart offenbar Schluss mit Stillsein und ich soll die Mutter gefragt haben nach den „stachligen Bergen“ vor oder hinter dem Bahnhof. Und hab ihre Antwort schlicht nicht kapieren können: „Weinberge“. Sollten über bombardierte Häuser und all das Wunderliche, was vom Zug aus zu sehen war, auch Berge „weinen“ müssen? Zum Weinen ist heute jedenfalls, dass dies einzigartige Stuttgart nun überhaupt nicht mehr zu sehen sein soll. Nur noch Tunnels, ausschließlich Schwärze. Könnte es sein, hier wird sich geschämt? Weil am Bahnhof nicht mehr nur grandiose Bäume stehen, sondern, auf der Gegenseite, Wände aus Banken-Beton, die mehr und mehr Platz wollen und Euro?

Heute wohne ich in Freiburg, dort hat man Erfahrungen mit Stuttgart. Zur Zeit geht’s um Raub, um Kulturvernichtung. Freiburg wird ein Schatz in Richtung Stuttgart verschleppt und zerstört, ein einzigartiges Orchester, mit Tradition zurück bis Brecht. Eine andere Geschichte? Scheint nur so. Landesväter operierten schon immer gern mit Lügen, in Baden würden die Lichter ausgehen, wenn nicht auch bei Freiburg Atomkraftwerke stünden. Filbinger, Teufel, Späth wollten neben Freiburg einen Prozessor, beim untergründigem Vulkan Kaiserstuhl, wo die Erdkruste unruhig ist, wo aber auch Franzosen ein AKW bauten, in Fessenheim, im Rheingraben, in dem vor nur einer Sekunde der Erdgeschichte die Stadt Basel zerfiel – über einem Beben, „Baseler Totentänze“. Wenn in der nächsten Erdsekunde ein Beben Fessenheim trifft, dann, beim üblichen Südwest, weht die unsichtbare Atomwolke nicht nur nach Freiburg, auch bis Stuttgart. Doch die Landesväter wollten Atomkraft, blind für Spät(h)-Folgen. Der derzeitige Regent möchte ein Problem lösen, das gar nicht lösbar ist, die sichere Aufbewahrung nuklearen Mülls. Wie wär’s wenigstens hier mal mit Ehrlichkeit. Dies Hunderttausend-Tonnen-Problem ist ein Hunderttausend-Jahre-Problem. Auch noch nach Fukushima wird das hirnlos verdrängt. Auch dass in Fukushima im Unglück unheimlich Glück war, die Todesluft wehte auf den Pazifik, nicht nach Tokio. Wie denn hätte man sie evakuieren sollen, die 30-Millionen-Stadt.

Gegen das nicht zuende Gedachte der „sauberen“ Atomkraft protestierten ab 1970 Deutsche und Franzosen gemeinsam. Und erfolgreich. Bremsten zwar nicht Fessenheim, aber ein AKW auf der deutschen Seite. Damals entstand rings um Freiburg die Bewegung der Grünen mit all ihren Gegen-Ideen, nicht nur zur Energie-Gewinnung. Nur über die Hauptstadt hinter dem Schwarzwald war in Freiburg immer neu zu staunen. Früh etwa über einen Minister für Kultus – der auch als Fußballchef Bedenkliches leistete, nämlich den zu vergraulen, der dann als Trainer der National-Elf Bestmögliches tat – als Minister beschimpfte dieser VFB-Boss unsere Schüler. Die sollten aufhören, mit ihren Eltern auf die Seychellen zu reisen, sollten lieber lernen. Zum Beispiel wo der Neckar in den Rhein mündet, in Heidelberg. Gleich drauf konnte ich in einem meiner Filme Schloss und Neckarwiesen zeigen und fragen, wo er denn in Heidelberg nun münde, der Rhein. So weit Stuttgarts Minister für Kultus.

Staunen löste dann noch mehr aus, wie plötzlich auch Stuttgart – neben Berlin und Hamburg – ein deutsches Großprojekt startete, für viele Milliarden S 21, mit einer Bahnstrecke, die wenige Minuten schneller nach Ulm bringen würde. Zwar sei die Anbindung an den Flughafen nicht gelöst (ist sie bis heute nicht), zwar würden Güterzüge die Steigung aus der neuen Stuttgarter Tiefstation empor zum Flughafen gar nicht schaffen, Güterzüge dürften also weiter die schönen Kurven von Geislingen umrunden. Da hatte Freiburg Probleme, Stuttgarts Kühnheit zu verstehen, einige nettere meinten, die Milliarden Richtung Ulm brächten aber glückliche Minuten für eine damals regierende schnelle Ulmerin, und sie gönnten ihr das.

Doch wozu ein Durchgangsbahnhof? Kopfbahnhöfe schmücken. Paris zum Beispiel, Wien. Auch München, Leipzig, Frankfurt. Und der Stuttgarter gilt als best funktionierender. Fortschrittsmärchen drangen durch den Schwarzwald, Sagen von einer Ost-West-Achse Paris-Bratislawa. Auch sah man von der Tiefstation brillante Architekturbilder. Gegen die Zweifel kam’s zur Volksabstimmung und siehe, das grüne Freiburg stimmte ganz und gar anders ab als die zukunftsberauschte Hauptstadt, in meinem Freiburger Stadtviertel mehr als 80 Prozent anders. Doch über den Supertiefbahnhof entschieden auch fernste Dörfer, dort, wo laut Thaddäus Troll sogar der Schnee sich geniert, nicht genügend schwarz zu sein.
Dabei will ja auch Freiburg Fortschritte, nur andere, in Sachen Energie-Gewinnung, weil, so mahnte der alternative Nobelpreisträger Hermann Scheer, weil nichts so unwirtschaftlich ist wie Atom-Energie und nichts so folgenreich und teuer. Denn was anfangs „sauber“ schien, bleibt todesgefährlich und am Ende unbezahlbar. Auch Bahn-Fortschritte wollte Freiburg, nämlich für Europas zentrale Nord-Süd-Achse, von Hamburg, Holland, Ruhrgebiet, Köln und Frankfurt nach Basel, Zürich, Mailand, Genua, für die Achse also, die am Oberrhein seit Langem auf vierspurigen Ausbau wartet, auf Anbindung an den neuen Gotthard-Basistunnel – stattdessen mühen sich zwischen Basel und Frankfurt auf oft nur zwei Spuren die ständig zahlreicheren Güterzüge plus Nahverkehr, InterRegios, S-Bahnen, ICs und ICEs, das quält sich von „Signalstörung“ zu „Signalstörung“ durch den Rheingraben, der breit genug wäre für neue Spuren.

Doch Freiburg bekam Belehrungen, nun von Stuttgarts ExLandesvater Öttinger. Der erschien in Freiburgs Uni, nun als Europa-Minister, und erklärte im größten Hörsaal, warum Stuttgarts Kopfbahnhof weg müsste, warum nur ein Ort wie Paris Kopfbahnhöfe brauche, weil ja hinter Paris nur noch Viehweiden kämen und der Atlantik. So weit Deutschlands Europa-Minister. Auch der half Freiburg nicht, zu begreifen, was in Stuttgart eigentlich vorging und warum am ansehnlichen Kopfbahnhof, warum am Bonatz-Bau schon mal die Flügel weggeschnitten wurden. Hatte doch sogar CDU-Mann Geissler, als er genügend informiert war, eingesehen, dass der Kopfbahnhof bestens kombinierbar wäre mit sinnvollen neuen Strecken.

Ach, wo sind heute noch Flügel. In dieser anerkannt klugen, jedenfalls cleveren Stadt, da soll seit nun 20 Jahren was entstehen, das erscheint wie eine Kopflosigkeit. Offenbar grassierte 1994 auch in Stuttgart neoliberaler Tatendrang, für Thaddäus Troll Fortschrittsbesoffenheit. Die benebelte so sehr, dass ein haarsträubendes Geldvernichten starten konnte, ausgerechnet in Stuttgart. Seit damals wird hier geträumt von einem enormen Bahnhof, der für 2 Milliarden DM zu haben sein sollte (20 Jahre später ist „S 21“ ums 10fache teurer). Anfangs löste das wohl einen Rausch aus, bei Bahnfreunden, Architekturfreunden, auch bei Spekulationsfreunden, „S 21“ versprach einen Image-Triumph fürs „made in Germany“. Doch inzwischen verkommt das – zu einem Mahnmal in Sachen Fehlplanung und Korruption. Wie konnte das passieren? Erlagen die Bahnchefs Dürr, Mehdorn und Grube einem Phantom? Alle drei priesen „große Kapazitäts-Zuwächse“. Noch bei der Volksabstimmung durfte man glauben, damit sei gemeint, der Neue leiste weit mehr als der Bestehende. Inzwischen ist die Enttäuschung groß und bitter, der Neue wäre ein Rückbau. Mindestens 30 Prozent weniger Leistung. Der wäre nicht nur kein Bürgerbahnhof – weil er den Bürger schädigte – , der wäre nicht mal ein Börsenbahnhof. Gewinnwarnung! Keine Rendite, weder fürs Gemeinwohl noch für die Bahn. Und für Börsenhaie nur sehr speziell. Volker Lösch hat daran erinnert, dass alle 3 Bahnchefs von Daimler kamen. Daimler hin oder her, schon rein wirtschaftlich erwiesen sich die Bahnhofsträume als Irrtum.

Wofür diese Tunnels, wofür die Tiefstation? Für „Kapazitäten“? Anderswo fehlt Geld, nerven Langsamstrecken, fehlen Weichen, der „Kaputtsparer Mehdorn“ („Die Zeit“) litt offenbar an Weichen-Allergie, hielt Nebenstrecken für überholt. Ist das Daimler-Denken? Denn die Bahn zu ruinieren, das tut ja was für den CO2-Verkehr, zu Lande wie in der Luft. Geld fehlt für tausendfünfhundert marode Bahnbrücken, auch am Essener Hbf war plötzlich Schluss mit schnell, denn seit der alten Gier nach schwarzem Gold lauern auch unterm Kohlenrevier chaotische Hohlkäs-Tunnels, und nach Mehdorns Personal-Einsparung überraschten im letzten Sommer am Hbf Mainz Stellwerk-Schrecken, ICEs rauschten wochenlang an Mainz vorbei. Wo, bitte, ist da „Kapazität“? In Stuttgart? Dort hat jetzt, wie sie sich selber nennt, die „große Familie der Tunnelbauer“ Platz genommen an einem reich gedeckten Tisch, mit gigantischem Auftragsvolumen. Wofür gebürgt wird, mit Steuergeld. Das Regierungspräsidium nannte Bahnhofs-Kritiker „schaumgeboren“, spinnert, weil die S 21 sogar für klimaschädlich halten. Ist halt schwer zu schlucken, dass der Neue, würde er realisiert, nicht annähernd so viel leistete wie der Bestehende, dass der TiefTraum mehr PKW-Verkehr produzierte. Und als wollte die Bahn das Daimler-Konzept nur bestätigen, plant sie nun auch das Ende der Autoreisezüge: alle Autos zurück auf die CO-2-Strecken.

Ach, wo sind heute noch Flügel. Als jetzt am 9. März auf allen neun Rheinbrücken zwischen Basel und Straßburg wieder protestiert wurde gegen die tödlichen Zumutungen unter Tarnnamen wie „Meiler“ undKern“-Kraft, da geriet ich vorm AKW Fessenheim zwischen Tausende Franzosen, die riefen die Parole des 90jährigen Deutsch-Franzosen Hessel: indignez vous! „Empört euch!“ Neben mir stand ein junger Mann, Laurent, lange Haare, ein Elektrotechniker, der wohnte in Fessenheim, der betrieb im Schatten des AKW eine eigene Energie-Firma – hier ist seine Visitenkarte: „Photovoltaik“! – direkt neben dem Monstrum, so wie auch ihr hier direkt vor dem Rathaus protestiert, in dem zugelassen wurde, dass einem großartigen Bau die Flügel abgeschnitten wurden. Und was steht auf der Visitenkarte des jungen Mannes? Donnez des ailes à vos projets – gebt Flügel eueren Projekten! Ja, Flügel wünsche ich auch euch hier, beflügelt zu sein von solch mutigem Kerl mitten im Land der 58 Atomkraftwerke, Flügel, um Stuttgarts Schiefbahnhof zu entlarven als makabre Absurdität, als völlig überflüssig und, ja, als Todesfalle mit Fluchtwegen, die viel zu eng sind und zu wenige, dafür viel zu viele Treppen, mit viel zu vielen Stufen, jede Treppe 3 Stockwerke hoch, die Bahnsteige lebensgefährlich schmal, die Lifts zu wenig und zu eng – überfällig, diese Angströhre nicht nur als unendliches Milliardengrab zu durchschauen, sondern als Menschenfalle, mit unzulässigen Neigungswinkeln, riskant für alles, was auf Rädern kommt, ob auf Rollstühlen oder in Kinderwagen. Wenn es da beim Umsteigen in der ja sehr sorgfältig durchkalkulierten Minuten-Eile, wenn es da auf den Treppen zum Stolpern und Stürzen kommt, da lese ich schon: „menschliches Versagen“ – Omma wa säpps in schuld, so klingt das im Ruhrgebiet. Nein, kriminelles Versagen geschieht dort, wo man solche Bahnhöfe genehmigt! Allzu gut kenne ich inzwischen selber das Zittern auf fast 80jährigen Beinen, beim treppab in Hetze. Der Kopfbahnhof dagegen hat angenehme Passagen, von Bahnsteig zu Bahnsteig gleiche Ebenen, hat Ausgänge nach allen Seiten, diesen Klasse-Bau zu ersetzen mit einer Tortur aus Stress und Hetze, DAS ist menschliches Versagen. Würde das gegen alle Vernunft realisiert, würden euere Bahnreisen zur Nervensache, nicht nur für Ältere und Behinderte, auch für Familien, Reisegruppen, Klassenfahrten, dies Gewirr aus 7 m hohen Treppen, endgültig tödlich im Brand- und Katastrophenfall. „Verschlankter“ Bahnhof, von 175 Metern Breite auf 75 Meter, wirksames Ziel für Terror-Idioten. Auch nach 20 Jahren „Planung“ ohne einleuchtendes Evakuierungskonzept. Stattdessen gibt es zum Glück noch immer die sichere und sinnvolle Alternative.

Flügel wünsche ich auch gegen die 60 Kilometer Tunnel, nun nicht mehr unter Straßen wie bei den S-Bahnen, sondern unter bebauten Grundstücken: Die Zukunft dieser Stadt als Epoche von Prozessen mit Stuttgarts Haus- und Grundbesitzern – wunderbar! Flügel aber vor allem gegen das Nadelöhr, das nicht erst bei Katastrophen zur Angströhre wird. Statt der bisher 16 Gleise nur noch acht, Freiburg hat mehr – München hat 36 – die acht könnten den Andrang nie stemmen, erst recht nicht den künftigen. Dazu Peter Conradi: „Volksabstimmungen setzen kein Recht außer Kraft, kein Haushaltsrecht, kein Strafrecht, und keine Sicherheits- und Brandschutzregeln.“ Und auch keinen Schutz vor Betrug – lassen wir’s uns nicht länger bieten, dies Stottern von Verträgen, die beachtet werden müssten. Wo bleibt der Ausschuss, der untersucht, wie diese Verträge zustande kamen, unter welchem Druck. Nicht nur unter Zeit-Druck. Kosten wurden immer erst dann offengelegt, wenn alles unterschrieben war. Was bei der sogenannten Volksabstimmung noch 4,5 Milliarden kostete, das kostete nur zwei Monate später 50 Prozent mehr. Diese zwitterhafte Bahn, die kann offenbar alles durchmogeln, mal ist sie staatlich, mal unternehmerisch, mal geht’s ums Gemeinwohl, mal um Gewinn, und dann schiebt ein Pofalla 2 Milliarden aus dem Kanzleramt ins tolle Image-Projekt – und bekommt sein tolles Pöstchen. Wie aus dem Lehrbuch für Korruption. Da resignieren sie, die Freiburger, in Stuttgart sei halt alles clever, der Schiefbunker dort, der wird gebaut, nix zu machen. Wirklich? Ein Rechtsstaat, der sich nicht wehrt, ist keiner mehr.

Wo hilft noch parlamentarische Opposition? Außerparlamentarisch opponieren hier Montag für Montag Eisenbahn-Fachleute, Unternehmer, Ingenieure, Anwälte, Wissenschaftler, auch Theologen. Mit eindrucksvollen Plakaten, zum Beispiel sehe ich die 4 „T“ im Wort „Stuttgart“ als Galgenkreuze, mit den letzten Worten des Jesus, nur das Wort „nicht“ ein wenig woanders: „Herr, vergib ihnen nicht, denn – sie wissen, was sie tun.“

In Freiburg wurde in großer Hoffnung RotGrün gewählt, in meinem Freiburger Wohnviertel mehr als 80 Prozent. Die sich christlich nennen, wozu sollen die noch opponieren, können zuschauen, wie RotGrün gehorsamst auslöffelt, was die sogenannt Christlichen ihnen einbrockten. Hartnäckig murmelt der derzeitige Landesvater „Verträge“! „Mehrheit“! – als hätte die Mehrheit gewusst, um was es hier geht (wenig später, wie in Verwirrung, wurde ein grüner OB gewählt). Im Schwabenland der Philosophen gilt nun Mehrheit als Wahrheit?

Soll denn diese trübe Giergeschichte erst das Nesenbachwasser trüben und die Bäder von Bad Cannstatt? oder soll das alles so weit gehen, dass sogar derjenige, der formal derzeit Deutschlands Oppositionsführer ist, dass am Ende der wortgewitzte Gisy sich auch noch ums Ländle kümmern muss? Jesses, das alte Spottlied von der Schwäb’schen Eisenbahn, das versteh ich inzwischen als frühe Weissagung. Muss im Nesenbachtalkessel am Ende eine ganze Stadt flügellahm hinterdrein stolpern? fest „angebunden mit Kopf und Seil an dem hinteren Wagenteil“?

So dass ein sehr ernster Infarkt Europas Lachnummer würde. Können hier Verantwortliche wirklich noch ruhig schlafen? Tiefenpsychologen sagen, dass Politiker insgeheim ihre Mühen belohnt sehen möchten, am Ende irgendwie vermerkt sein wollen im „Buch der Geschichte“ – also gut, ihr Kretschmann, Kuhn und Hermann, Schmid und Schmiedel, dann haltet Euren Schwur, Schaden abzuwenden! Der derzeitige Landesvater hat sich jetzt auf sechs Seiten Rechtfertigungen zurechtgelegt, manches Bisherige seien halt „Irrtümer“, aber doch wohl zu schlucken. Diese „Irrtümer“ operierten mit Lügen. Um den Abstimmungsbetrug zu gewinnen, waren zuvor falsche Kosten genannt worden. Irrtümer? Zu pfeifen ist auf die immer wieder väterlich beschworene „Projektfürsorgepflicht“. Dagegen zitiere ich jetzt mal folgendes aus dem tiefsten Gemüt dieser Stadt: „Seit so viel Geld im Land ist, sind die Menschen unredlich.“ Das schrieb kein heutiger Kulturphilosoph, das schrieb 1827 hierorts, und mitten im „Biedermeier“, ein genialer junger Stuttgarter, der nur 24 Jahre alt wurde, Wilhelm Hauff. In seinem Todesjahr schrieb er das in „Das kalte Herz“. „Seit so viel Geld im Land ist, sind die Menschen unredlich“ – dies „Märchen“ lest ihr in meinen „Schwarzwaldgeschichten“, und anschauen könnt ihr das hier nebenan, im Staatsschauspiel unter dem neuen Intendanten Petras. In der Tat: Stadt, Land und Bahn bieten ein denkwürdiges Staatsschauspiel. Stuttgarter, lest eueren 24jährigen Propheten – und geht in Euer Staatstheater – und staunt.

Wenn der Landesvater erklärt, „der Käs“, der sei halt gegessen, dann muss man ihm diesen „Käs“ gar nicht erst madig machen, weil der längst grauenhaft verdorben ist, der wimmelt von Kostenlügen und Leistungslügen. Und riecht übel, nämlich nach Wort-Bruch, ja, in Freiburg empfinden wir seinen „Käs“ als Verrat, sehen Grüne in peinlicher Nibelungentreue zu einem Projekt, das auch sie bekämpft hatten. Nach Fukushima war in Freiburg wie nirgends sonst grün gewählt worden, weil zu hoffen war, dass nicht nur Atomkraft mit ihren Horror-Spät(h)folgen, sondern dass auch der Horror-Bahnhof von den Grünen gar nicht erst gegessen würde, und wenn doch, dass die den dann auskotzten! Weil ja ihr Chef als Ethiker und Biologe wissen müsste, wie verheerend verwurmter Käse wirkt, ruinös auch für den Leib einer Stadt. Ach, was viele Freiburger nun umtreibt, so wie euch hier, das ist keine Politik-Verdrossenheit, das ist Politik-Sehnsucht.

Verträge mit Bau-Mafia und Investment-Gauklern können nicht nur, die müssen gekündigt werden. Weil diese Verträge durch Kostenlügen ohne Geschäftsgrundlagen sind, nicht legitimiert. Lügen nahmen auch der Volksabstimmung die Legitimation, machen sie nur noch zur Beleidigung für Wahrheitsliebende und Stuttgartliebende. Auch hat ja soeben Karlsruhe entschieden, dass auf der Basis von Wirtschafts-Kriminalität jede Abmachung ungültig wird, dass da überhaupt nichts mehr zu zahlen ist. Erst recht nicht für einen polizeiwidrig lebensgefährlichen Bahnhof.

Man lese den Esslinger „Tunnelblick“ (Nr. 33) über den „dümmsten Bahnhof der Welt“: „Geschenkt wäre der noch zu teuer“. Ja, weil er auch Menschenleben kosten würde. Und seit es nun nicht mehr nur um Finanzbetrug geht, sondern auch um Gefahr für Leib und Leben, seitdem ist eine rote Linie überschritten. Rote Karte! Radikale Kündigung! Ehe ein überteuerter und sturz- und brandgefährlicher Kleinstadtbahnhof, kleiner als in Freiburg, ehe der diese Stadt lächerlich macht und ruiniert, sollte nun wenigstens einer der hier Verantwortlichen Flügel spüren, Mut fassen, vorangehen, das Zeitfenster nutzen – ja, er käme dann auch ins Buch der Geschichte – Schluss mit dem verlogenen, verfahrenen, menschenverachtenden Phantom-Bahnhof, ohne gültige Finanzvereinbarung, was auch die „Proler“ zugeben, die Bahnhofs-Befürworter. Schluss mit diesem Zwitter- und Geisterzug dem tödlichem Betrugszug und endlosen Milliardengrab, Schluss mit der Alptraum-Angströhre. Selbst der schlaue alte Bergsteiger, als er alle Fakten der Gruft kannte, da riet er zur sicheren und stress- und barrierefreien Kombination von Kopfbahnhof und Fernstrecken – Schluss mit Daimler-Denken und Image-Idiotie! mit Stuttgarts Kopf und Seil am hinteren Wagenteil einer grauenhaften Gespensterbahn – zurück in den KOPF! Kündigen! Alles aussteigen! aussteigen aussteigen.

J. L., Bücher- und Filmemacher, geboren 1936 in Essen, Studium in Freiburg (Abschlüsse in Geologie, in Literatur). 30 Jahre TV-Moderator, Initiator der „Bücher-Bestenliste“. Zuletzt „Schwarzwaldgeschichten“, „Salamander“, „Fessenheim“.

www.jürgen-lodemann.de