Dialog über die Mauern hinweg

Reinhild Dettmer-Finke / Thomas Hauser / Britt Schilling, „Strafraum. Absitzen in Freiburg“, Herder 2020

Verbrecher, Verrückte. Spricht man von den Menschen, die unsere Gesellschaft hinter Mauern hält, sind die harten Urteile nicht fern. Leicht fällt auch der Urteilsspruch, wenn es darum geht, Mitmenschen vor den möglichen Gefahren zu schützen, die von jenen ausgeht, die unsere Normen nicht teilen oder gar massiv verletzen. Dabei gibt es auch Möglichkeiten zum Dialog. Ein Fotoprojekt und eine Kunstausstellung wagen den Austausch und werfen grundsätzliche Fragen auf.
„Wer nicht funktioniert, wird weggesperrt.“ Reinhild Dettmer-Finke ist Filmemacherin und zusammen mit der Fotografin Britt Schilling Initiatorin des Foto- und Informationsprojekts Strafraum – Absitzen in Freiburg. An den Mauern der Justizvollzugsanstalt Freiburg sind im Rahmen des Freiburger Stadtjubiläums seit Juni großformatige Fotografien von Gefangenen und deren Zellen zu sehen. Dazu kurze Zitate aus dem Lebensalltag im Gefängnis. Etwa: „Ich würde gern mal wieder einen Anzug tragen.“ Oder: „Warte jetzt, dass mein Kaffeewasser heiß wird.“ Emotionen, Alltagsbeobachtungen, alles jenseits der großen, heißblütig geführten Debatten um Verbrechen und Strafe. Im einleitenden Interview zum Begleitband spricht sich Dettmer-Finke kritisch gegenüber dem „bestrafenden Denken“ aus, das unsere Gesellschaft heute prägt. In den 70er-Jahren etwa wäre der Diskurs in Deutschland noch deutlicher gen Resozialisierung oder „Täter-Opfer-Ausgleich“ orientiert gewesen. Dorthin wollen die Initiatorinnen des Projekts wieder einige Schritte tun, auch auf künstlerischem Wege. Ihr Fotoprojekt sehen sie als „Anti-Stigma-Projekt, um Vorurteile abzubauen“.

Ausstellung an der Außenmauer der JVA Freiburg Foto: Britt Schilling

In den 70er-Jahren fand auch die Antipsychiatriebewegung ihren Höhepunkt. Die Argumentation ging in ähnliche Richtungen. Michel Foucaults einflussreiche Dissertation Wahnsinn und Gesellschaft (1961) war ein Stichwortgeber. Zu Beginn des Buchs zitiert Focault Dostojewskij: „Man wird sich seinen eigenen gesunden Menschenverstand nicht dadurch beweisen können, daß man seinen Nachbarn einsperrt.“ Auch wenn die psychiatrischen Anstalten heute weit weniger wie Gefängnisse anmuten als noch vor 50 oder 100 Jahren bleibt auch den dortigen Insass*innen das Stigma. Dem gegenüber steht die Sammlung Prinzhorn am Universitätsklinikum Heidelberg. Wie auch den Freiburger Künstlerinnen geht es den Verantwortlichen um eine „Entstigmatisierung und gesellschaftliche Inklusion“. 2020 präsentiert die Sammlung ihre Sonderausstellung „Ein mehrfacher Millionenwerth“. Fragile Schätze der Sammlung Prinzhorn ebenso wie ihre erste Dauerausstellung Die Sammlung Prinzhorn – Von „Irrenkunst“ zur Outsider Art. Ob psychisch krank oder straffällig – sowohl in Freiburg als auch Heidelberg verarbeiten die Außenseiter*innen der Gesellschaft ihre Gefühlswelt in der Kunst. Ein Projekt über die Mauern und Verständnisgrenzen hinweg.
„Indem wir die psychologischen Wurzeln des Gestaltungstriebes beim Menschen aufsuchen, erkennen wir in dem Ausdrucksbedürfnis das Zentrum der Gestaltungsimpulse.“ Der Kunsthistoriker und Assistenzarzt der Heidelberger Psychiatrischen Klinik Hans Prinzhorn (1886–1933) legte zwischen 1919 und 1921 eine Sammlung mit künstlerischen Werken von Anstaltsinsass*innen an. Kurz darauf veröffentlichte er sein bis heute vielfach aufgelegtes Werk Bildnerei der Geisteskranken (1922). Sein Beitrag war zu Zeiten virulenter Debatten um „Genie und Wahnsinn“ sicher nicht originell, in seiner Herangehensweise aber ungewöhnlich. Statt einer pathologischen Aburteilung, wie sie viele seiner Kolleg*innen praktizierten, näherte sich Prinzhorn den Werken der Insass*innen auch als Kunsttheoretiker. Am Ende seines Buches steht gar eine vertiefte Analyse der Werke zehn schizophrener Maler. Der „Irre“ als Künstler? Gerade gegenüber dem Insassen Franz Pohl äußert sich Prinzhorn beinahe enthusiastisch, als Kunstliebhaber ohne psychiatrische Distanz: „Angesichts dieses Werkes von Grünewald und Dürer zu reden, ist gewiß keine Blasphemie.“ Für Prinzhorn besitzen alle Menschen ein Ausdrucksbedürfnis, ob es nun das Dürers, Pohls oder unsereins ist. Sein Projekt bedeutet schon in seinen Grundfesten enormes emanzipatorisches Potential. Denn was uns ergreift, beeindruckt, kann doch so fremd und falsch nicht sein. Warum dann also wegsperren?
Das sind Fragen, die das Projekt Strafraum ebenfalls stellt. Viele Artikel im Begleitband kommen immer wieder darauf zurück. Ein Projekt zwischen Schüler*innen und Gefangenen führt ein Mädchen schließlich zum Fazit: „Ich streite die Taten und grausamen Verbrechen keineswegs ab, aber ich vergesse den Menschen dahinter nicht.“ Mit dem Menschen begann auch Strafraum. 2017 entwickelte Fotografin Britt Schilling zusammen mit einigen Häftlingen ein Text-Bild-Tagebuchprojekt. Um 17:15 Uhr jeden Tages gaben die Gefangenen Impressionen aus ihrem Alltag an Schilling weiter, die setzte eigene Fotografien dazu. Einige der Texte und Fotografien sind im Begleitband zu sehen. Darunter anrührende Motive, etwa die Freude eines Gefangenen über den baldigen Besuch seines Neffen, lockere wie poetische Gedanken über Langeweile und Freiheit oder den plötzlichen Fall der Berliner Mauer. Die Fotografien zeigen einen Globus, einen Mann, der aus dem Fenster blickt, ein Flugzeug am Himmel. Gerade durch seine künstlerische Aufbereitung gelingt es dem Begleitband, die ebenfalls enthaltenen Artikel zu Resozialisierung, Arbeitsbedingungen und Täter-Opfer-Ausgleich emotional zu begleiten. Der Gefangene löst sich von der bekannten Variabel des Risikofaktors und erhält individuelle Größe. Der Gefangene wird zum Faktor, der plötzlich zählt.

„Sehe ein Flugzeug / Wohin es wohl fliegt? / Wie gerne wäre ich an Bord / Hier endlich weg sein – ein toller Traum – aber ich muß jetzt zur Arbeit – Ups –“

Der Traum des Gefangenen wird der psychisch kranken Person zur Realität. Neben den Schrecken einer veränderten Wirklichkeit bieten sich dabei auch Fluchtmöglichkeiten. In Else Blankenhorns farbstarken, etwas an Marc Chagall erinnernden malerischen Werks scheinen auf allegorische Weise Bilder einer glücklichen Paarbeziehung auf. Ein übliches Familienleben, das innerhalb der psychiatrischen Anstalt nicht erreichbar war – wohl aber in der Fantasie. Die führte bei vielen Insass*innen auch nicht selten zu grotesken Selbstermächtigungen. Etwa, wenn Patient Carl Lange vom „Heiligen Schweißwunder“ in seiner Einlegesohle detaillierte künstlerische Abbilder schafft. Immer wieder tritt in den Äußerungen der Insass*innen auch das Bedürfnis hervor, die Anstalt hinter sich zu lassen. Hans Prinzhorn berichtet vom ehemaligen Bauzeichner Joseph Sell, der als „Vertretung Gottes“ aus der Anstalt entlassen werden möchte, in der man ihn mit einem „Comprimiß-Aparat“ belästige oder gar mit „Leichengeruch“ füttere. Seine Bilder beschreiben die „Zuchthaus-Chikane“ um 1900 in harten, mechanischen Formen, aber auch mit sadomasochistischen Untertönen, wie Hans Prinzhorn bemerkt. Deutlich bleibt in jedem Fall, dass jenes von Prinzhorn konstatierte Ausdrucksbedürfnis weit über die Anstaltsmauern weist und moralische Kategorisierungen leicht überkommt.

Else Blankenhorn: „36000 MILLIARDEN MARK – KAISERIN ELSE – KAISER WILHELM“ (Geldschein), vor 1920 Foto: Sammlung Prinzhorn, Universitätsklinikum Heidelberg

Dabei kommen wir um die Moral nicht herum. Es bleibt wichtig, auf Menschen zu achten, die anderen oder sich selbst gefährlich werden können. Das ist Realität. Der unmittelbare, künstlerische Ausdruck muss nicht Realität sein, kann uns aber die Empfindungen der Menschen zugänglich machen, die bis heute nicht als Teil „unserer“ Gesellschaft akzeptiert und auf Distanz gehalten werden. Mit der Kunst und dem künstlerisch schaffenden Menschen zeigen sich die Widersprüche eines Systems der klaren Ab- und Ausgrenzungen. Die Widersprüche wenigstens sollten wir aushalten können.

Reinhild Dettmer-Finke / Thomas Hauser / Britt Schilling, „Strafraum. Absitzen in Freiburg“, Herder 2020. Die Ausstellung an den Gefängnismauern der JVA ist rund um die Uhr frei begehbar. Kommende Begleitveranstaltungen: www.strafraum-freiburg.de
Öffnungszeiten der Sammlung Prinzhorn: Mi.: 15–20 Uhr; Do., Fr.: 13–17 Uhr; Sa.: 12–17 Uhr; an geöffneten Feiertagen: 12–17 Uhr. Eine Anmeldung wird empfohlen: shopprinzhorn.zpm@med.uni-heidelberg.de

Bildquellen

  • Carl Lange: „Ein mehrfacher Millionenwerth. Die photographisch nachweisbaren, ineinanderliegenden, ein fünfzehnjähriges Verbrechen enthüllenden Wunderbilder in der Schuheinlegesohle des Geopferten“, um 1900: Sammlung Prinzhorn, Universitätsklinikum Heidelberg