Der in den U.S.A. gefeierte Roman „Der Nazi und der Friseur“ des deutsch-jüdischen Schriftstellers und Holocaust-Überlebenden Edgar Hilsenrath feierte im Wallgraben Theater Premiere

Darf man über den Holocaust eine Groteske schreiben – noch dazu aus Täter-Perspektive? – Nein, entschieden Verlage hierzulande und so dauerte es sechs Jahre, bis der längst in den USA gefeierte Roman „Der Nazi und der Friseur“ des deutsch-jüdischen Schriftstellers und Holocaust-Überlebenden Edgar Hilsenrath 1977 auch in deutscher Sprache erschien – und sehr kontrovers diskutiert wurde. Denn Hilsenrath bricht in seiner unglaublichen, auf eine wahre Begebenheit beruhenden Geschichte konsequent mit Erwartungshaltungen, in dem er Klischees gegen den Strich bürstet und durch Zuspitzung ad absurdum führt.
Ein blutiger Schelmenroman über einen Massenmörder und Kriegsgewinnler, der die Identität seines von ihm selbst ermordeten Freundes stiehlt, um nach Kriegsende den eigenen Arsch zu retten. Ein Nazi als Jude, ein Wolf im Schafspelz. Jetzt zeigt das Wallgraben Theater die ebenso komplexe wie beeindruckende Bühnenadaption von Gastregisseurin Monique Hamelmann, die als ihre erste Inszenierung im Februar 2020 im Staatsschauspiel Dresden Premiere feierte und mehrfach ausgezeichnet wurde. Der Roman jedenfalls hat Stoff genug für einen Mehrteiler – so viele Stationen und Episoden erzählt dieser Itzig Finkelstein alias Max Schulz in seinem schräg-makaberen Monolog: Von der ersten Hitler-Rede bis zum KZ Laubwalde, von der Flucht durch die polnischen Wälder bis zum Berliner Hotel „Vaterland“, vom Schwarzmarkt bis nach Palästina, vom Partisanenkämpfer zum Friseursalonbesitzer.
Gut, sich die Chronologie der Ereignisse vorab anzulesen, sonst können die Zeitsprünge schon ziemlich verwirren. Auch sollte man keine Staub­allergie haben oder eine Maske tragen – denn Staub – oder ist es hier die Asche der Ermordeten? – nebelt geballt auf der von Elisabeth Wegener fantastisch ausgestatteten Bühne: Ein mehrteiliger, schmuddliger Gazevorhang, davor ein Berg alter Koffer und Kisten, dahinter weiße Birkenstämme in düsterem Schwarz-Braun. Der Wald der sechs Millionen, aus dem immer wieder eisiger Wind weht… Eine expressionistisch-surreale Filmkulisse, dazu ein starkes Lichtkonzept und sparsame Soundeffekte (Florian Kühn, Stephan Schoder). Dicke Schlammschlacken bröseln von den mit neonrotem Lidschatten in Weiß und Schwarz geschminkten Gesichtern. Falk Döhler (Schulz/Finkenstein) und Ole Pampuch (alle anderen Figuren) präsentieren sich als zwei Horror-Clowns, so hässlich wie der Krieg – Max mit auftoupierter, schwarzer Künstlermähne, der blonde Itzig mit angeklatschter Hitlerjungen-Frisur. Dann rollt Monique Hamelmann die Ereignisse vom Ende her auf: Schulz ist alt, hat Angst und erinnert sich…
Die schnell geschnittenen Szenen leben von grandiosem Schauspiel: Falk Döhler und Ole Pampuch bringen ihre Figuren so fesselnd auf die Bühne, dass sich viele Bilder dieses Abends ins Gedächtnis brennen. Superpräsent, körper- und ausdrucksstark, extrem wandelbar bleiben sie bei all den abrupten Zeit-und Rollenbrüchen immer im Flow und nehmen das Publikum mit auf ihre aberwitzige Odyssee. „So war das, so und nicht anders“, beteuert Schulz wie ein orientalischer Märchenerzähler. Mal schnoddrig, mal brutal, mal düster-poetisch auch die Sprache. Ein sehr intensives Stück, dass dem Holocaust nichts von seinem Grauen nimmt – im Gegenteil, gerade der Perspektivwechsel eröffnet einen spannend-irritierenden, weil emotionaler Zugang zur Banalität des Bösen. Und der ist gerade doppelt wichtig – nie wieder ist Jetzt!

Weitere Infos: www.wallgraben-theater.com

Bildquellen

  • Falk Döhler und Ole Pampuch: Foto: Mathias Lauble