Das Stück „Räumen – Ein Spiel von Haben und Sein“ im Theater im Marienbad

Die Corona-Beschränkungen legen leider den Kulturbetrieb zwar weitgehend lahm, zeitigen mitunter jedoch einmalige Erlebnisse. So hat der Schreiber bisher noch keine veritable Theaterpremiere ohne Publikum, nur in Anwesenheit der an der Produktion unmittelbar Beteiligten und wenigen Vertretern der Presse erlebt. Der Grund: Der Probenprozess des neuen Kinderstücks „Räumen – Ein Spiel von Haben und Sein“ des Theaters im Marienbad musste ein schnelles Ende wegen des nahenden Geburtstermins von Regisseurin Hannah Biedermann finden. Also musste die Erstaufführung downgelocked ohne Öffentlichkeit stattfinden.
Das Stück nennt keine persönliche Autorenschaft, im Spielplan wird es als kooperative „Stückentwicklung mit pulkfiction“ bezeichnet. Die Kölner Performancegruppe pulkfiction ist in der Kinder- und Jugendtheaterlandschaft weithin bekannt und vor drei Jahren mit dem deutschen Theaterpreis „Der Faust“ ausgezeichnet worden. Für das Ensemble aus der Marienstraße ist dies die erste Zusammenarbeit mit der Kölner Truppe – und dies vorweg – war ein Volltreffer.
Zunächst beginnt alles sehr kühl. Der anfänglich gänzlich leere, in sterilem weiß gestrichene Bühnenraum, ist ein an zwei Seiten aufgeschnittener Quader und in helles Licht getaucht. In die verbliebenen Seitenwände sind eine Tür und Klappen eingelassen. Der ebenfalls weiße Plastik-Boden verströmt auch nur abstoßende Kälte. Dann geht es Schlag auf Schlag: Der leere Kühlraum füllt sich in atemberaubendem Tempo per Videoprojektionen an die üppig vorhandenen weißen Flächen (Videosequenzen: Norman Grotegut) mit einem wahnwitzigen Sammelsurium von nötigen und unnötigem alltäglichem Krimskrams.Die herein- und wieder hinausstürmenden Schauspieler Daniela Mohr, Christoph Müller, Manuela Neudegger und Benedikt Thönes versuchen in einer turbulenten Performance aus Slapstick-, Akrobatik- und Tanzelementen, Ordnung in die Unordnung zu bringen. Sie tragen quer zu allen denkbaren Stilrichtungen liegende Fantasiekostüme aus vielfach an Vorhangstoffe der fünfziger Jahre erinnernde Materialien und Designs (Ausstattung Ria Papadopoulou). Der erhöht an der offenen Seite inmitten von technischem Gerät kauernde, für Musik zuständige Marcus Thomas sorgt für die zusätzlich chaotisierende Geräuschkulisse des Infernos und treibt die Schauspieler selbst durch immer schärfer formulierte Zeitvorgaben an. Dieses allseitige Zusammenwirken der verschiedensten Darstellungsformen als grundlegendes Inszenierungsprinzip zieht sich in jeweils unterschiedlicher Ausprägung und in handwerklich absoluter Perfektion durch das gesamte Stück.
Inhaltlich dreht sich alles um das Räumen. Darunter ein bloßes Aufräumen im Sinne von Ordnung schaffen zu verstehen, greift zu kurz. In einer Szene schaffen es die Akteure letztlich nicht, eine unglaubliche Anzahl von Plüschtieren, Spielsachen, Kissen, Schachteln, Schreibsachen etc. in ein kleines Regal zu pferchen und es wird dadurch klar, dass jeder einzelne viel zu viel von all diesen Dingen besitzt. Kinderstimmen aus dem Off erzählen, dass sie beim Aufräumen festgestellt haben, dass sie gar nicht mehr wissen, was sie alles haben. Andererseits werden einzelne Gegenstände wie eine einfache Quietscheente als wertvoller Kamerad erkannt, mit dem man in trüben Gemütsmomenten Zwiesprache halten konnte. Nach der Information, dass jeder Deutsche durchschnittlich über 10000 Gegenstände besitzt, werden Fragen gestellt wie: „Bin ich, was ich besitze?“ Einschlägige Stellen aus dem „Kapital“ von Karl Marx über den Unterschied zwischen Gebrauchs- und Tauschwert und somit dem Doppelcharakter einer Ware werden zunächstaufgegriffen und leicht verständlich durch die Schilderung einer Spieluhr, die einer als Geschenk bekommen hat und sie also besitzt, sie aber sehr selten spielt und dennoch stets weiß, wie sie klingt.
Dies sind nur einzelne Beispiele aus einer rasanten Dramaturgie von aneinandergereihten Szenen, die den Unterschied zwischen Haben und Sein höchst amüsant, für den Betrachter sinnfällig und mit viel Spaß reflektieren, ohne belehren zu wollen. Es ist bravourös gelungen, dieses Anliegen für ein Publikum vom Sechsjährigen bis zum Erwachsenen adäquat auf der Bühne umzusetzen und eine Spielstraße für eigenes Nachdenken zu bauen. Aufräumen kann man nicht nur in der Wohnung, sondern auch im Kopf im Hinblick auf die eigene Beziehung zu den Dingen. Bleibt zu hoffen, dass die im November ausgefallenen Aufführungen im Dezember und weiterhin wieder stattfinden können.

Weitere Infos: www.marienbad.org

Bildquellen

  • AUFRaeUMEN: MiNZ&KUNST