Das Chamber Orchestra of Europe feiert den 40. Geburtstag und spielt unter Yannick Nézet-Séguin einen kompletten Beethovenzyklus im Festspielhaus Baden-Baden

Die Augen weit aufgerissen, das Haar zerzaust. Nikolaus Harnoncourt möchte vom Chamber Orchestra of Europe bei der 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven ein schnelles, gewaltiges Crescendo, wie „wenn ein zehn Meter langes Krokodil sein Maul aufreißen würde“ – und knurrt dazu! „Die Schönheit ist immer am Rand der Katastrophe“, sagt er in der intensiven Probe, die auf dem Youtube-Channel des Orchesters nachzuerleben ist. Über eine Million Mal hat sich die Box mit Live-Aufnahmen der neun Symphonien seit 1991 verkauft. Ein Beethoven unter Strom, mit Panik-Attacken in den Streichertremoli und scharfen Akkordschlägen in der Pauke und den schmetternden Naturtrompeten. Auch auf der im letzten Jahr veröffentlichten Schubert-Box, ORF-Livemitschnitte aus dem Jahr 1988, zeigen Harnoncourt und das wache, reaktionsschnelle Kammerorchester bereits bei den frühen Symphonien starke Kontraste. Die Durchführung der „Unvollendeten“ im Kopfsatz wird zu echter Psychomusik. Nun eröffnet das Chamber Orchestra of Europe (COE), das am 18. Mai seinen 40. Geburtstag feierte, das Festspielhaus Baden-Baden nach dem Lockdown mit dem kompletten Beethovenzyklus vor Publikum. Man darf gespannt sein, wie Dirigent Yannick Nézet-Séguin mit diesem Erbe umgehen wird.
Die Aufgeschlossenheit und auch den unbedingten Gestaltungswillen hat sich das in London ansässige Chamber Orchestra of Europe seit seiner Gründung bewahrt. Die Selbstverantwortung der rund 60 Mitglieder ist groß, die basisdemokratische Struktur wurde genauso wie der bewusste Verzicht auf einen Chefdirigenten beibehalten. Der Frauenanteil liegt bei seltenen 50 Prozent. Neben der EU stammen die Musiker-innen und Musiker auch aus der Schweiz, Israel und den USA. Gegründet wurde das Orchester von Mitgliedern des EU-Jugendorchesters, die nach dem altersbedingten Ausschluss weiter zusammenspielen wollten. Für das Debütkonzert am 18. Mai 1981 unter Claudio Abbado in London teilte man sich die Kosten. Und fand in Peter Readman, heute geschäftsführender Vorsitzender des COE, einen gut vernetzten Geschäftsmann, der schnell Geldgeber fand. Bis heute erhält das Orchester keine Subventionen, sondern wird durch Stiftungen und private Mäzene finanziert. Mit Claudio Abbado katapultierte sich der neue Klangkörper sofort in die internationale Musikszene – auf eine Europatournee folgten Opernproduktionen. „Im COE stehen das Zusammenspiel und die Klangkultur im Mittelpunkt“, sagt Solokontrabassist Enno Senft, einer von sechs Deutschen und Gründungsmitglied des Orchesters. „Diese Prinzipien haben Claudio inspiriert. Er verstand sich quasi als dirigierender Kammermusiker und hat so eine einzigartige Einheit im Ensemblespiel geschaffen.“ Rund 10 Projekte spielt das COE pro Jahr – etwa 100 Tage sind die Mitglieder, die sonst als Solisten, Professoren und Orchestermusiker ihr Geld verdienen, für das europäische Ensemble aktiv. In fast jedem Statement wird das Familiäre des Orchesters betont. Das macht die Aufgabe für die charismatische Konzertmeisterin Lorenza Borrani nicht leichter. „Eine Familie hat wunderbare, aber auch knifflige Seiten. Der wichtigste Punkt ist, dass jeder eine große Verantwortung für die Qualität unserer Arbeit verspürt.“ Den Orchesterklang beschreibt sie als „Leuchten, das die Farbe wechselt, aber nie die Wärme und Frische verliert.“ Neben Claudio Abbado und Nikolaus Harnoncourt waren Bernard Haitink, Vladimir Jurowski, Sir Antonio Pappano, Andras Schiff und Yannick Nézet-Séguin prägend für den kontinuierlichen musikalischen Erfolg. Regelmäßig ist das Orchester im KKL Luzern, der Alten Oper Frankfurt, dem Festspielhaus Baden-Baden, dem Concertgebouw Amsterdam und der Philharmonie de Paris zu hören. „Das COE ist ein europäisches Kollektiv und versteht sich nach wie vor als Träger europäischer Kultur in einer Zeit, in der immer häufiger nationale Hindernisse in den Weg gelegt werden“, sagt Enno Senft.
Im letzten Jahr konnten bis Ende Februar noch einige Projekte realisiert werden. Man spielte bei der Mozartwoche Salzburg und war auf Tournee in Ungarn, Belgien und Holland. Von März 2020 bis heute wurden alle Projekte abgesagt. Zyklen mit Beethovens Klavierkonzerten und Jan Lisiecki und Rudolf Buchbinder, Konzert mit Pianistengrößen wie Andras Schiff und Martha Argerich und den Geigern Renaud Capucon und Joshua Bell. Auch der Brexit ist für das Orchester eine besondere Herausforderung, wie Manager Simon Fletcher betont, weil er das Reisen enorm erschwere. Den Sitz in London behält das COE, aber es wird ab 2022 Residenzorchester bei gleich zwei verschiedenen Veranstaltern: dem neu gebauten Casals Forum in Kronberg (Taunus) und dem Schloss Esterházy im österreichischen Eisenstadt.
Der Beethovenzyklus, mit dem das Chamber Orchestra of Europe im Juli wieder die große europäische Bühne betritt, war 2020 eigentlich in Paris und Luxemburg vorgesehen. Jetzt macht Intendant Benedikt Stampa die prestigeträchtigen Konzerte, die live gestreamt und auf CD aufgenommen werden, im Festspielhaus Baden-Baden möglich. Hier hat Yannick Nézet-Séguin mit dem COE bereits konzertante Mozart-opern dirigiert. Und gezeigt, wieviele Zwischentöne er dem Orchester neben Transparenz und Kontrastreichtum entlocken kann. Seine Mendelssohn-Aufnahmen beweisen, dass er neben den blitzenden Details auch viel Wert auf die große Gesangslinie legt. Und wenn die Streicher und Holzbläser so energiegeladen und präzise agieren wie im berauschenden „Saltarello“-Finale der „Italienischen Sinfonie“, dann kann man sich vorstellen, dass sein Beethoven vielleicht etwas verbindlicher und runder werden wird als bei Harnoncourt, aber bestimmt nicht weniger aufregend.

Kompletter Zyklus der Beet-hovensymphonien mit dem Chamber Orchestra of Europe (Leitung: Yannick Nézet-Séguin) am 2.,4.,9. und 10. Juli 2021. www.festspielhaus.de.

Bildquellen

  • Chamber Orchestra of Europe / COE: © Julia Wesely