Charmanter Trash, Klischees und große Stars in Berlin

„Il Viaggio a Reims“, „Die Nase“ und „Macbeth“ in Berlin – ein Premierenrundgang

In Berlin hatten an einem einzigen Wochenende alle drei großen Opernhäuser Premieren. Giuseppe Verdis „Macbeth“ mit Anna Netrebko und Placido Domingo wurde von der Staatsoper Unter den Linden sogar im Public Viewing auf dem Bebelplatz vor rund 20.000 Zuschauern übertragen – gute Gelegenheit für eine Bestandsaufnahme.

Anna Netrebko in „Macbeth“, Staatsoper Unter den Linden. ©Bernd Uhlig

„Wir möchten Macbeth sehen und nicht so einen Scheiß. Und das in der Staatsoper“, schreit ein (vermeintlicher) Zuschauer in den Saal. „Aber das ist hier die Komische Oper“, antwortet der Sänger auf der Bühne. Und meint damit den Ort des Geschehens in der Berliner Behrenstraße.

„Die Nase“ von Dimitri Schostakowitsch nach einer Novelle von Gogol ist aber auch eine sehr komische, groteske Oper. Beim Barbier kommt die Nase von Platon Kusmitsch Kowaljow abhanden und landet in einem Brotteig. Diese „Entnasifizierung“ (deutsche Textfassung: Ulrich W. Lenz) löst eine Jagd nach dem verlorenen Riechorgan aus, das sich selbstständig macht und das zaristische Russland aufmischt.

Hinter der schrillen Fassade steckt viel Gesellschaftskritik. Intendant Barrie Kosky legt aber in seiner bunten Inszenierung, die bereits in London und Sydney zu sehen war, den Fokus auf die durchgeknallten Momente. Wie auch in seinen gefeierten Operetten- und Musical-Inszenierungen setzt der Australier auf hohes Tempo und trashige Revue. „Es gibt nichts Lustigeres, als eine Nase mit nackten, behaarten Beinen quer über die Bühne rennen zu sehen“, meint Kosky im Programmheft.

Das Nasen-Männerballett um den zehnjährigen Tänzer Lion Sturm legt aber auch eine charmante Stepnummer hin, die technische Perfektion mit völliger Absurdität verbindet. Die knalligen Kostüme von Buki Shiff, die Perücken mit Bärten und Strapsen kombinieren und aus heimeliger Folklore ein grelles Panoptikum machen, zeigt die Groteske, die auch im Orchestergraben zu spüren ist.

Der designierte lettische Generalmusikdirektor Ainars Rubikis lässt der rhythmischen, Haken schlagenden Musik ihre Anarchie. Das Orchester der Komischen Oper spielt präzise, unerbittlich und auch charmant, wenn einmal ein Walzer den musikalischen Überdruck für einen Moment herausnimmt. Günter Papendell singt und spielt Kowaljow mit extremer Präsenz. Jens Larsens mächtiger Bass überzeugt in gleich drei Rollen. Auch die vielen kleinen Partien sind bis zum neunten Polizisten passend besetzt.

Eine hohe musikalische Qualität ist bei diesem besonderen Berliner Wochenende mit Premieren an allen drei Opernhäusern auch in der Deutschen Oper mit Gioacchino Rossinis „Il viaggio a Reims“ zu erleben. Das Orchester zeigt sich unter der Leitung von Giacomo Sagripanti extrem beweglich und ausbalanciert. In den insgesamt sechzehn anspruchsvollen Solopartien setzen Elena Tsallagova als koloraturengespickte Corinna, Siobhan Stagg als kristalline Contessa di Folleville und Mikheil Kiria als gewichtiger Lord Sidney die stärksten Akzente. Musikalisch ist dieses Aufeinandertreffen der heterogenen Reisegruppe, die auf dem Weg zur Königskrönung in einem Kurhotel strandet, ein echtes Feuerwerk.

Szenisch bleibt die Inszenierung von Jan Bosse trotz ihrer ansprechenden Optik (Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath) in dem verspiegelten Schlafsaal zu unscharf. Die Figuren entwickeln kaum Konturen und bleiben austauschbar. Und sind mit der sexy Krankenschwester (Hulkar Sabirova als Madama Cortese) und dem Biedermann im Tiger-Morgenmantel (David Portillo als Il Conte di Libenskof) auch zu klischeebeladen.

Die großen Stars der Opernszene gibt es in Giuseppe Verdis „Macbeth“ an der Staatsoper Unter den Linden zu erleben. Man kommt nur mit Mühe durch die Absperrungen und wird von einem Sicherheitsbeamten zum Pressestand begleitet. Beim großen Public Viewing auf dem benachbarten Bebelplatz schaut man nicht das WM-Spiel Deutschland gegen Mexiko, sondern wartet auf die Live-Übertragung im Rahmen von „Staatsoper für alle“.

Generalmusikdirektor Daniel Barenboim, der der Staatskapelle Berlin in diesem blutigen Drama dunkle Farben, aber auch ganz weichgezeichnete, schwebende Klänge entlockt, hat wieder einmal Anna Netrebko ans Haus geholt. Mit ihrem dunkel timbrierten, golden schimmernden, über eine fantastische Legatokultur verfügenden Sopran zeigt sich die Russin im Zenit ihrer Karriere. Auch darstellerisch verleiht sie dieser Lady Macbeth enorme Präsenz – die Szene als Schlafwandlerin im zweiten Bild des vierten Aktes, wenn die Last ihrer Schuld zum Alptraum wird, bleibt nicht nur wegen ihrer kunstvoll verschatteten, wie von weit erklingenden Stimme im Gedächtnis.

Mit Placido Domingo (77) als Macbeth steht ihr ein Partner zur Verfügung, dem stimmlich ein wenig die Schwärze des Charakters fehlt, der aber nach wie vor mit vollendeter Linienführung und melodischer Intensität berührt und viel Lyrisches gestaltet. Harry Kupfers düstere Inszenierung (Bühne: Hans Schavernoch, Kostüme: Yan Tax) schafft ein paar starke Bilder, illustriert aber meistens nur das Geschehen.

Am Ende gibt es stehende Ovationen für einen durchaus packenden Opernabend. Auch auf dem Bebelplatz wird trotz der Niederlage Deutschlands gejubelt, als die zuvor auf der Leinwand verfolgten Akteure in echt auftauchen und den Fans zuwinken. Die große Oper zeigt sich volksnah.

Georg Rudiger