Biologie, Kypernetik und künstliches Leben: „The artwork as a living system“ Ausstellung im ZKM Karlsruhe

Es grünt in allen Grün-Schattierungen, es wächst und wuchert beim Zuschauen. Was aussieht, als hätte die Natur den Turbo eingelegt, ist allerdings virtuell und im Inneren des ZKM Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe zu finden. „The artwork as a living system“, also die Kunst als lebendes System, erweist sich als ideale Ergänzung zu den beiden schon laufenden Ausstellungen „BioMedien“ und „The Beauty of early Life“ im gleichen Haus. Das Künstlerpaar Christa Sommerer und Laurent Mignonneau spielt schon seit den 1990er Jahren gern mit interaktiven Installationen, die sich mit Wachsen, Werden und Vergehen, dem Fressen und Gefressen werden beschäftigen, ganz wie in der Natur.
Wer die Ausstellung betritt, lockt zunächst einmal einen Schwarm von Fliegen an, die einem folgen. Klingt ein bisschen gruselig, aber die Fliegen sind virtuell und damit völlig harmlos. Künstliche Wesen kann man in echtem Wasser aussetzen und ihr Verhalten beobachten, man muss in „A-Volve“ nur mutig drauflos zeichnen. Die seltsamen Kreaturen, die man auf dem digitalen Zeichenblock erschafft, erscheinen gleich darauf im Wasserbecken, schwimmen fröhlich herum, treffen aufeinander und vermehren sich. Oder sie fressen sich gegenseitig, je nachdem. Bei den echten Grünpflanzen in Töpfen und Hängeampeln gilt: Anfassen ausdrücklich erwünscht! Wer das Grün liebevoll streichelt, sieht wie es auf dem großen Bildschirm oder der Panoramaleinwand munter wuchert. Und man muss nicht mal gießen!
So, wie die Natur auf die Eingriffe des Menschen reagiert, reagieren auch die interaktiven Arbeiten von Sommerer und Mignonneau, nur viel schneller. Besonders schön ist das in „Phototropy“ zu erleben. Mithilfe einer Taschenlampe kann man einen Schwarm kleiner Falter in das üppige Grün auf dem Bildschirm zaubern. Aber bitte mit Gefühl, denn wenn man nicht aufpasst, sterben die zarten weißen Schmetterlinge…Da wird aus dem Begriff „Insektensterben“ etwas, das man direkt sehen und erleben kann.
Zur wachsenden Müllflut ist Christa Sommerer und Laurent Mignonneau eine reizvolle, utopische Computeranimation eingefallen. Umringt von halbrunden Panoramaleinwänden taucht man ein in eine Welt, in der fleißige Ameisen unermüdlich den alltäglichen Müll heran schleppen. Das Künstlerpaar hat als Grundlage den innerhalb einer Woche angefallenen eigenen Müll dafür verwendet. In „Scavengers“ wird es immer mehr und mehr, bis kaum noch Grün unter dem Abfall zu sehen ist. Doch dann tritt eine überraschende Wendung ein: viele Käfer krabbeln herbei und fressen den Müll auf – wäre das nicht schön, gäbe es solche Käfer im echten Leben?
„Art as a living system“ konzentriert sich viel, aber nicht ausschließlich auf Vorbilder aus der Natur. Erlebbare, fassbare Kunst wartet auf die neugierigen Besucher im „AR(t)chive“. Was wie eine Sitz­ecke aussieht, verwandelt sich für den, der sich traut, die Hololens-Brille aufzusetzen. Schon steckt man mit in einer virtuellen Realität, in der man Kunstwerke nehmen, heranholen, neu gruppieren und verschieben kann. Und, es steckt schon im Titel, gibt es virtuelle Schubladen mit vielversprechenden Namen wie „technology“ oder „experience“, die man öffnen kann. Es ist ein bisschen wie bei „Alice im Wunderland“, nur dass das „AR(t)chive“ nicht dazu einlädt, etwas zu essen oder zu trinken, das einen schrumpfen oder wachsen lässt.
Wissenschaftlich gesehen handelt es sich in dieser Ausstellung um Werke, in denen Biologie, Kybernetik und künstliches Leben aufeinandertreffen. Die Kunst von Sommerer und Mignonneau liegt nicht zuletzt darin, das mühelos erfahrbar zu machen.

„Artwork as a living system“, ZKM Zentrum für Kunst und Medien, Lorenzstr. 19, 76135 Karlsruhe, Mi-Fr 10-18 Uhr, www.zkm.de. Bis 31.07.2022

Bildquellen

  • © Christa Sommerer & Laurent Mignonneau, »Scavengers«: Foto: © Felix Grünschloß