Jessica Glause inszeniert am Theater Freiburg Mithu M. Sanyals Roman „Identitti“ als Entwicklungsstück

Der weibliche Orgasmus ist nicht eben das, auf das die deutsche Hochkultur bislang zusteuerte. Mithu M. Sanyal jedoch ist nicht nur Autorin des Bestsellers „Identitti“, sondern auch des viel beachteten Sachbuchs „Vulva. Das unsichtbare Geschlecht“. Und so findet im Eingangskapitel „Me and the Devil“ von Sanyals Debütroman und im Kleinen Haus ein Ejakulationswettbewerb statt zwischen Nivedita, auch Identitti genannt, und der Göttin Kali. Sie ist der besagte Teufel, nimmt sich, was sie will und hängt es sich an den Gürtel. Denn dort baumeln die Köpfe ihrer männlichen Feinde. In Freiburg sind es gleich vier Frauen, die sich gemeinsam mit Kali zum Höhepunkt bringen.
Regisseurin Jessica Glause hat die Figur der vom Missy-Magazin geadelten Bloggerin und Postkolonialismus-Studentin Nivedita, Tochter indisch-polnischer Eltern, auf vier Schauspielerinnen chorisch aufgeteilt. Karin Yoko Jochum, Alina Sokhna M’Baye, Laura Angelina Palacios und Charlotte Will übernehmen zudem die Rollen von Cousine Priti, der beiden Freundinnen Lotte und Oluchi und des Raji. Die männlichen Figuren sind drastisch gekürzt oder wie Niveditas Exfreund gleich ganz gestrichen. Mai Gogishvili (Kostümbild) hat sie nicht nur mit viel Glitter und Glimmer, kurzen Plisseeröcken oder Hosen und dicken Sneakern ausgestattet, sondern sie auch mit dunklen Perücken versehen, die ein wahres Flechtwerk sind. Der herzförmige Turmbau ist wie für Göttinnen oder afroamerikanische Popdiven geschaffen. Kali (Janna Horstmann), die ein bisschen an HR Gigers Alien erinnert, nur in Reptilienblaugrün und mit blau geschminktem Gesicht und roter Zunge, plagen derartige Identitätskrisen oder Debatten über Race und Weiße Privilegien nicht. Sie ist sozusagen eine Rampensau von Göttin.
„Identitti“ ist auch ein Campusroman, der die Verunsicherungen dieses Lebensabschnittes einschließt. Bei Nivedita werden sie durch die erfahrenen Diskriminierungen verstärkt. Die sozialen Medien vervielfachen alles. Glause lässt all die Hashdags und Kommentare nicht einblenden, sondern unter Anführungszeichen sprechen. Niveditas Professorin an der Düsseldorfer Universität Saraswati (Anja Schweitzer) nimmt sich, was sie glaubt, es stände ihr zu. So tauscht sie ihre prototypische deutsche Herkunft gegen eine indische ein, macht in Postcolonial Studies Karriere und schart PoC-Jüngerinnen um sich. Doch schnell ist klar, alles ist eine ziemlich dreiste Lüge.
Dass es hier Figuren gibt, die sich Dinge nehmen, hat Mithu M. Sanyal eine Fangemeinde beschert, die in der Literaturszene eher ungewöhnlich ist. Den Theatern blieb dies nicht verborgen. Glauses Inszenierung (Text: Jessica Glause und Anna Gojer) ist bereits die dritte Adaption, für die erste schrieb Sanyal selbst die Bühnenfassung. Um wieviel komplexer, großzügiger und auch witziger der Roman ist als eine Lesart, die lediglich feministisch und woke ist, konnte das Freiburger Publikum bei Sanyals Lesung im Literaturhaus Freiburg im vergangenen Herbst erleben. Die 1971 geborene Düsseldorfer Autorin und Wissenschaftlerin weiß, was sie macht.
Die Freiburger Inszenierung befreit sich von allem universitären Düsseldorfer Lokalkolorit. In der Mitte steht ein Podest mit einem Ornament, das sich auf der Bühne fortsetzt. Beleuchtet wird es von zwei Reihen Neonröhren, die im Oval angeordnet sind. Kali räkelt sich auf dem Podest und spreizt ihre Glieder, dass es eine Lust ist. Saraswati hingegen ist mehr oberste Priesterin ihrer eigenen Sache. Im Haar trägt sie einen Strahlenkranz wie die Freiheitsstatue. „Saraswati ist Pop“ heißt es einmal vom Nivedita-Chor. Das stimmt hier nicht ganz, die Figur bleibt blass, so dass ein Ungleichgewicht zwischen Nividita, ihren Freundinnen und der verehrten Professorin entsteht, die hier nur wenig Charisma entwickelt. Pop ist hingegen „Identitti“ selbst. Es wird viel gesungen, manches klingt nach Musical (Musik: Clara Pazzini). Darin mag sich auch spiegeln, wie sich Theater relevante Stoffe als Frischzellenkur aneignen. Die Freiburger Inszenierung konzentriert sich auf das Politische, so dass aus ihr eine Entwicklungsgeschichte wird. Sozusagen von der von Missy gefeierten Bloggerin zur taz-Kommentatorin. Das lässt sich sehen, bleibt aber hinter dem Roman zurück.

Bildquellen

  • Charlotte Will, Laura Palacios, Karin Yoko Jochum, Alina Sokhna M’Baye: Foto: Amelie Amei Kahn-Ackermann