„Atomkraft kann ein Land zerstören“ – aber nachhaltig und klimafreundlich

„Hast Du das gelesen?“ wurde die Autorin immer öfter gefragt und bekam Hinweise auf Interviews, Gast-Beiträge, Streitgespräche von FAZ bis TAZ, in Print-, Online und TV-Beiträgen, mit Schlagzeilen à la „Kann die Atomkraft das Klima retten?“ und „Atomkraft erlebt Renaissance“. Irgendwann sammelt man all das in einer Tabelle und stellt fest: es ging 2019 los, wurde jedes Jahr mehr und Anfang 2022 erleben wir ein regelrechtes Atom-Crescendo. Bemerkenswert, denn die Argumente gegen Atomenergie – Müll für die Ewigkeit, Proliferationsgefahr, Quersubventionierung militärischer Anwendungen durch Stromkund:innen, Katastrophen-Risiko – sind nach wie vor gültig. Und die „verheerende Aufheizung des Erdballs“ (O-Ton Helmut Schmidt) ist nicht neu dazugekommen, sie ist Industrie und Regierungen seit den 1950-ern bekannt. Der Klimawandel wurde seit den 1970-ern in Wellen immer wieder als Atom-Argument aus dem Hut gezaubert. Doch mit dem Aufbau der Atomkraftwerk-Parks und der „too cheap to meter“-Legende erhöhte sich der Stromverbrauch.

Abb.: Prozentualer Anteil von fossilen Brennstoffen am Primär-Energie-Verbrauch von Japan, Deutschland und im globalen Durchschnitt. Kein Ereignis hatte so massive Auswirkungen wie Fukushima. 54 Atomreaktoren wurden 2011 in Japan vom Netz genommen. Datenquelle: Our World In Data

„Reumütige-Atom-Konvertiten-Syndrom“
Auffallend oft stehen Personen im Zentrum der medialen Atom-Thematisierung, die ihr „Reumütige- Atom-Konvertiten-Syndrom“ wie eine Monstranz vor sich hertragen und deren mäßig relevante Meinungsänderung zu einer Story aufgepumpt wird. Die britische Medienplattform OpenDemocracy fragte angesichts dieses international gleichartig zelebrierten Storytellings, warum die Unterstützung für die Atomkraft ausgerechnet dann am lautesten ist, wenn ihre Misserfolge am deutlichsten sind.
Dazu kommt, dass nur die eine Wandlungs-Richtung Redaktionstüren öffnet, selbst für Protagonisten, die alle Nase lang ihre Haltung zu allem Möglichen ändern. Wenn umgekehrt gleich fünf ehemalige Japanische Ex-Regierungschefs die Europäische Union warnen, dass die „Atomkraft ein Land zerstören“ kann, wenn ehemalige internationale Atomaufseher und Regierungsberater eindringlich vor dem Potenzial der Atomkraft warnen, erheblichen Schaden anzurichten, reagieren weder Agenturen noch Redaktionen.
Anfang 2019 war den meisten Leuten noch nicht klar, woher die zunehmende Häufung der kommunikativen Pflöcke kommt, die medial eingeschlagen werden. Nur die wenigsten haben zur Kenntnis genommen, dass in Brüssel seit 2018 ein Prozess im Gange ist, um eine einheitliche Kennzeichnung für Geldanlagen festzulegen, die mit dem Label ‚Nachhaltigkeit‘ beworben werden dürfen. Schön für Unternehmen und Finanzinstitute, welche die Kennzeichnung zukünftig als Aushängeschild nutzen können. Blöd für diejenigen, deren schmutzige Kapitalstrom-Lenkungen so sichtbar werden und sie als umweltfeindliche Geschäftspartner brandmarken.

Atom-Frankreich profitiert, in Deutschland sollte Erdgas „sexy“ werden
Deshalb wurde hinter den Kulissen heftig lobbyiert, um Schmutziges grün zu waschen. Frankreich, die freundliche Atommacht von nebenan, fand in Osteuropa Verbündete, die sekundierten, um ausgerechnet die ökonomisch nicht tragfähige Hochrisikotechnologie Atomkraft durch den Griff nach öffentlichen Geldern irgendwie finanzierbar zu machen. Weil Erdgas-affine Kräfte in Atomausstiegs-Deutschland für jeden Quatsch zu haben sind („Gas ist sexy“), ließ sich ein schmutziger Deal organisieren: das deutsche OK für „nachhaltige Atomkraft“ gegen das französische OK für „nachhaltiges Erdgas“. Das offensichtliche Greenwashing muss auch dem letzten klargeworden sein, spätestens in dem Moment, da die Rüstungsindustrie sich infolge des fossil-atomaren Dammbruchs meldete, frei nach dem Motto „wenn die dürfen wollen wir aber auch“ ein grünes Etikett für ihre Geschäfte mit dem Tod.
Die Lobby-Aktivitäten der Atomkraft-Unterstützer waren für die meisten lange unsichtbar. Ein kleiner Pro-Atom-Verein mit Namen Nuklearia hatte das Taxonomie-Thema schon früh auf dem Schirm. Bereits im September 2019 rief er Atom-Fans zur Unterstützung auf, um „die Kernkraft als nachhaltig anzuerkennen“ und gab online-Anleitungen für den Weg durch das EU-Bürokratie-Labyrinth. Zu dieser Zeit hörte man selbst aus Energie-Expert:innen-Kreisen immer wieder, das Atomkraft-Thema wäre durch, da käme niemand mehr mit „Renaissance“-Fantasien.
Von wegen. Inzwischen ist es nicht mehr zu übersehen, die Zeitungen sind voll: Ob man nicht doch noch mal überlegen solle und sogar (!) Bill Gates hätte sich dafür ausgesprochen. Kein Wunder, seine Firmen würden profitieren, er hat nicht umsonst ein Lobby-Büro in Brüssel. Und ach, Atomkraft könne ja beim Klima eine gute Rolle spielen. Nein, kann sie nicht, denn sie bindet Kapital das für echten Klimaschutz fehlt. Das Risiko eines verehrenden Unfalls ist nach Fukushima nicht gesunken, bloß, weil das kollektive Gedächtnis schwächelt. Seit nunmehr 11 Jahren ist Japan mit den Folgen der Dreifach-Kernschmelze beschäftigt, experimentiert mit Eiswänden und Robotern, hortet kontaminierte Erde und Wasser, versucht energie- und kapital-intensiv die Katastrophe einzuhegen. Und richtig, die „Atomkraft kann ein Land zerstören“, denn es war reiner Zufall, dass die Fukushima-Wolke größtenteils aufs Meer hinaus und nicht in die 37-Millionen-Einwohner-Metropolregion Tokio wehte. Ein Blick auf den Einsatz fossiler Brennstoffe in den letzten sechs Jahrzehnten zeigt: Ein einziges Ereignis hat in Japan dazu geführt, dass ein nie dagewesener Zuwachs an fossilen Energie-Trägern angeschoben wurde. Allein im Kontext der Klimakrise muss klarwerden, dass wir uns dieses Risiko, mit einem Schlag alle vorangegangenen CO2-Reduktionen zunichte zu machen, nicht leisten können. Das Zeitfenster in der Klimakrise ist viel zu klein, um sich auf teure und riskante Scheinlösungen, auf vorgeschobene Argumente einflussreicher Interessensgruppen einzulassen.

Bildquellen

  • Abb.: Prozentualer Anteil von fossilen Brennstoffen am Primär-Energie-Verbrauch von Japan, Deutschland und im globalen Durchschnitt. Kein Ereignis hatte so massive Auswirkungen wie Fukushima. 54 Atomreaktoren wurden 2011 in Japan vom Netz genommen.: Datenquelle: Our World In Data
  • Chernobyl in der Ukraine: Foto: Wendelin_Jacober/pixabay