Alles nur nicht Mittelmaß: Tom Schneider und Alduin Gazquez zeigen einen einmal ganz anderen Ikarus
Wenn der Sand zwischen die Zehen dringt, könnte man denken, man sei auf einer Insel. Kreta vielleicht? Mehr Sommer, Meer und Sonne gehen ja kaum. Doch für Ikarus ist Kreta auch nur ein Dorf, von dem man nicht wegkommt. Minos hat den Fährbetrieb unterbunden, da hängt man dann fest, da fährt dann nicht einmal unter der Woche ein Bus. Zudem statten die griechischen Heldengeschichten ihre Protagonisten nur selten mit einer Clique aus, die Gründe liefern könnte, warum zu bleiben auch eine Option wäre. Und Daedalus hat Heimweh nach Athen und nur wenig Lust, mit seinem Sohn zu kommunizieren. Griechische Helden wie Ikarus und Daedalus sind Beispiele und so wird das Scheitern von Ikarus meist als Hybris gelesen. Was dachte er sich nur, so nah an der Sonne zu fliegen, dass das Wachs, das die Federn verband, schmolz.
Oliver Schmaerings Stück „Ich, Ikarus“, das am 23. Mai im Theater im Marienbad Premiere hatte, richtet sich an Kinder ab zehn Jahren und Erwachsene. Tatsächlich lässt sich hier mühelos die Perspektive wechseln, sich mit dem abwesenden Vater identifizieren, an die eigene Jugend denken oder eben, wie es ist, wenn es weder vorwärts noch rückwärts geht. Mit 80 Minuten ist der von Tom Schneider inszenierte Monolog relativ lang. Doch er und Alduin Gazquez haben sich wohl gefunden. Der Schauspieler hat die Musikalität und die Beweglichkeit, die Schneiders Regie auszeichnet. Mehr noch, er hat die Präsenz und den richtigen Ton, so dass diese 80 Minuten nie langweilen. Dass man im Kesselhaus auch ziemlich dicht am Geschehen sitzt, heißt, dass einem kaum etwas vom sehr intensiven Spiel Gazquez‘ entgeht. Dabei wissen wir ja alle, wie es ausgeht. Schlecht nämlich. Ikarus weiß es auch. Denn vielleicht befinden wir uns auch gar nicht an einem kretischen Strand mit weißem Sand, an den Treibholz, Seile und kleine Spielfiguren angeschwemmt werden und über dem gut zehn Lampen ihr warmes Licht verbreiten, vielleicht ist es ja der Meeresgrund, auf den Ikarus aufschlug und da er sich nicht von den Flügeln lösen könnte, ertrank (Bühne: Bernhard Ott).
Wenn wir uns die Mythen erzählen, begehen ihre Helden immer wieder die gleichen Taten und sie sterben die gleichen Tode. „Ich, Ikarus“ eignet sich das eigene Schicksal an – Stück und Inszenierung machen die Wiederholung zu einem ästhetischen Mittel. Alduin Gazquez‘ Ikarus stottert sich daher auch in seine Geschichte hinein bis dann der entscheidende Satz fällt „so hast du vor zu fliegen, fragte Daedalus“. Doch ist es überhaupt eine Frage? Und dann: dann geschah wieder nichts. Stück und Inszenierung greifen das Gefühl, dass nichts Entscheidendes passiert durch Repetitionen auf. Gazquez spricht Sätze in ein altmodisches Aufnahmegerät und lässt diese dann durch eine Loopmaschine laufen. Daniel Nehrlich (Musik und musikalische Leitung) steuert elektronische Pattern bei und gibt allem Struktur und Drive. Später wird sich Gazquez immer wieder auf ein hohes Podest hieven, es ist der Felsen, von dem er und sein Vater losfliegen werden. Das sich wiederholende Erklimmen führt vor: Ikarus ist niemand für die „vernünftige Mitte“, keiner, der den väterlichen Rat, weder zu hoch zu fliegen, so dass die Sonne das Wachs schmilzt noch zu tief zu fliegen, so dass die Gischt des Meeres die Flügel durchnässt, annehmen wird. Für die Betrachtenden ist das in seiner Vergeblichkeit und Kraftverschwendung fast schon schmerzlich anzusehen. Aber Ikarus wollte es nicht anders. Muss man akzeptieren, ist trotzdem toll.
Weitere Vorstellungen: www.marienbad.org
Bildquellen
- „Ich, Ikarus“ feierte Premiere im Theater im Marienbad: © MiNZ&KUNST