Berlinale 2018: Was tut sich im deutschen Film?

Radikales Kino im Rampenlicht

Im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale starteten vier deutsche Produktionen ins Rennen um die Bären-Trophäen, so viele wie noch nie. Eine faustdicke Überraschung gab es auf der Preisverleihung.

Paula Beer und Franz Rogowski in „Transit“. (© Schramm Film/Marco Krüger)
Paula Beer und Franz Rogowski in „Transit“. (© Schramm Film/Marco Krüger)

Der Prophet hat es schwer im eigenen Land. Was als Plattitüde daher kommt, charakterisiert treffend die leidenschaftliche Debatte, die seit Jahren rund um den deutschen Film unter Filmemachern und Kritikern geführt wird. Besonders groß sind die Ansprüche, besonders streng die Kritik und besonders herb kann die Enttäuschung sein.

Die Diskussion, welche Impulse vom deutschen Kino ausgehen können, findet ihren alljährlichen Höhepunkt auf der Berlinale, vornehmlich rund um das Wettbewerbsprogramm. Deutsche Produktionen haben dort selten für Aufsehen gesorgt. Gegen die Wand, Barbara und Victoria waren rühmliche Ausnahmen der letzten Jahre, der Großteil der Produktionen verschwand jedoch postwendend in der Versenkung und ist höchstens passionierten Kinogängern ein Begriff. Die Frage, woran das liegt, ist nicht einfach zu beantworten. Ins Feld geführte Gründe reichen von filmpolitischen Fehlern bis hin zu Schwächen im Kuratierungsprozess des Festivals. Der Diskurs zur Ursachenforschung ist nach wie vor im Gange.

Im an interessanten Filmen reichhaltigen Wettbewerb der diesjährigen Berlinale kamen vier der 19 Produktionen aus Deutschland. Damit stellte das Festival einen Rekord auf, noch nie war der Anteil deutscher Filme so groß. Zeit also, sich diese im Hinblick auf das kreative Potential etwas genauer anzuschauen.

Den Auftakt im Wettbewerbsprogramm machte Transit, der neue Film von Christian Petzold (Barbara, Phoenix). Petzold verarbeitet darin Anna Seghers‘ gleichnamigen Fluchtroman, den die Autorin 1941 im Exil verfasste. Georg (Franz Rogowski) verlässt das von deutschen Truppen besetzte Paris in Richtung Marseille. Im Gepäck hat er die Hinterlassenschaften eines verstorbenen Freundes, darin unter anderem ein Visum für die USA. In Marseille ist die Zeit knapp, bleiben darf hier nur, wer nachweisen kann, dass er wieder weg will und Georg muss sich schnell um eine Schiffspassage nach Übersee bemühen. Im Hotel, in den Botschaften, in dem kleinen Café an der Ecke – überall trifft Georg auf Flüchtlinge, jeder hat seine eigene Geschichte und jeder will so schnell es geht weiter, Marseille wird zum großen Transitraum. Christian Petzolds Kniff besteht darin, die Flüchtlingsgeschichte aus dem zweiten Weltkrieg im heutigen Marseille neu zu verorten. Die Bezüge zu aktuellen Geschehnissen und Entwicklungen werden dadurch unübersehbar. Transit leuchtet im Fluchtkontext die Beziehungen der Menschen zueinander aus und verschneidet dabei mehrere Erzählebenen zu einer nicht sofort selbsterklärenden aber kunstvollen Melange. Damit galt der Film bei Presse und Publikum als erstes Highlight im Wettbewerb, vor allem hinsichtlich Petzolds innovativer Umsetzung der Romanvorlage.

Von ganz anderer Gestalt war dann das Bio-Pic 3 Tage in Quiberon der Regisseurin Emily Atef (Wunschkinder). Der Film zeigt einen Ausschnitt aus dem bewegten Leben der deutsch-französischen Schauspielerin Romy Schneider: Trotz schlechter Erfahrung mit der deutschen Presse gab Schneider 1981 in dem bretonischen Kurort dem „Stern“-Journalisten Michael Jürgs ein ausführliches und sehr persönliches Interview. Möglich wurde dies durch Romy Schneiders Freundschaft zu dem Fotografen Robert Lebeck, der versprach, das Interview zu begleiten. Lebecks Schwarzweißfotografien von Romy Schneider sind bis heute legendär, wohl kein anderer schaffte es, das lebhafte und widersprüchliche Wesen der Schauspielerin derart eindrücklich festzuhalten. 3 Tage in Quiberon stellt, auf Lebecks Fotos aufbauend, in klaren Schwarzweißbildern die Geschichten nach, die sich innerhalb der Gruppe rund um das Interview ereigneten und fängt dabei die besondere Stimmung dieser Tage ein. Hauptdarstellerin Marie Bäumer kommt nicht nur in Aussehen, Sprache und Mimik Romy Schneider beeindruckend nahe, sondern brilliert auch als von Schicksalsschlägen und Substanzmissbrauch gezeichnete Frau, hinter deren divenhaften Eskapaden immer wieder ein sensibler und zutiefst verunsicherter Mensch zum Vorschein kommt.

Nicht immer schafft 3 Tage in Quiberon den Spagat zwischen biografischem Kino und Fan-Hommage, ist aber nichtsdestotrotz ein respektvolles und intimes Porträt, das in jeder Einstellung von seiner herausragenden Hauptdarstellerin getragen wird.

Als das Festival dann schon auf die Zielgerade einbog, wurde es noch einmal unruhig im Wettbewerb. Mit Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot stieg der neue Film von Philip Gröning (Die Frau des Polizisten) ins Bären-Rennen ein. Wir sehen Elena, die mit ihrem titelgebenden Bruder das letzte Wochenende vor der Abiturprüfung verbringt. Die beiden liegen im Kornfeld nahe einer abgelegenen Tankstelle in der Sonne. Es wird viel geschwiegen, dazwischen fragmentarisch über Philosophie gesprochen: „Wie kann etwas vergehen, das ein Recht hat, zu sein?“ ist zum Beispiel so ein Satz. Ab und zu holt einer der beiden in der Tankstelle Bier oder Zigaretten. Am Ende gibt es einen Twist, der den Film in eine völlig andere Richtung lenkt und schwer zu verstehen ist.

Ansonsten passiert wenig, die Zeit verstreicht langsam im Film – und im Zuschauerraum. Problematisch wird „Robert“ nämlich durch seine Länge von knapp drei Stunden. In der Pressevorführung verließen seufzende Zuschauer im Minutentakt den Saal. Die, die durchhielten, flüchteten sich am Ende in Galgenhumor oder machten aus ihrer Ratlosigkeit keinen Hehl. „Prätentiös“, „sperrig“, „langweilig“ waren noch die harmlosesten Kommentare. Auch nach Abschluss der Berlinale weiß keiner so recht, was anzufangen ist mit diesem Film. Zweifelsohne ist es ein spannendes Unterfangen, inhaltliche Fragen zur Zeit in den formalen Rahmen zu übernehmen. Ebenso ist aber unbestritten, dass es Gröning nicht gelungen ist, philosophische Themen in einem adäquaten Format zu verarbeiten. Zu zäh ist die Handlung und zu gewollt ist der Versuch, elaboriertes Bildungskino zu präsentieren.

Und dann noch der vierte und letzte deutsche Beitrag, gleichzeitig der Abschlussfilm des Wettbewerbs: In den Gängen aus der Feder des Regisseurs Thomas Stuber (Herbert). Der schüchterne Christian (wieder Franz Rogowski) fängt neu an in einem großen Supermarkt irgendwo in Brandenburg. Sein Vorarbeiter Bruno (großartig: Peter Kurth) führt ihn in den Mikrokosmos ein, in dem die Belegschaft so etwas ist, wie eine große Familie. Die schlagfertige Marion (Sandra Hüller) hat es Christian angetan und als die beiden sich vorsichtig annähern, drückt der ganze Supermarkt die Daumen. Doch Marion ist verheiratet und damit fangen die Probleme an, die nicht kleiner werden, als Christians altes Leben ihn einzuholen droht. Regisseur Stuber inszeniert die Geschichte im Un-Ort Supermarkt. In den kalten, hohen Gängen ist eigentlich kein Platz für Leben. Und dennoch entspinnt sich zwischen den Mitarbeitenden ein Netz an Beziehungen und Verhältnissen.

In den Gängen kommt traumartig leicht daher und wird von einem feinen, zurückhaltenden Humor untermalt, der der Geschichte trotz ihrer tragischen Entwicklung eine positive Kraft verleiht.
Das deutsche Kino präsentierte sich im diesjährigen Wettbewerb also ambitioniert und durchaus mit Potential, Lob gab es von der heimischen wie der internationalen Kritik. Daher staunten nicht wenige, als am Ende bei der Bärenvergabe alle vier Filme leer ausgingen und in keiner der insgesamt acht Kategorien Erwähnung fanden. Nicht nur damit sorgte die sechsköpfige Jury unter Vorsitz des Regisseurs Tom Tykwer für eine Überraschung.

Auch bei der Vergabe des Goldenen Bären setzte die Jury ein Ausrufezeichen. Dieser ging an den semidokumentarischen Spielfilm Touch me not der jungen rumänischen Regisseurin Adina Pintilie. Damit zeichnete die Jury den wohl kontroversesten Film des diesjährigen Wettbewerbs aus. Als Versuchsanordnung inszeniert, sehen wir in Touch me not die Mittfünfzigerin Laura (Laura Benson), die ihrem Problem, körperliche Nähe zuzulassen, mit verschiedenen therapeutischen Spielarten zu entgegnen versucht. Sie bestellt einen Callboy, dem sie beim Masturbieren zusieht (diese Szene kommt nach etwa fünf Minuten und bereits hier verließen die ersten Zuschauer den am Ende halbleeren Kinosaal) und versucht mit Sexualtherapeuten aus dem Transvestit- und SM-Bereich, ihre Berührungsängste abzubauen. Parallel folgt der Film Tomas (Tómas Lemarquis), der seine emotionale Verschlossenheit abbauen möchte, indem er in einer Therapiegruppe mit körperlich schwer beeinträchtigten Menschen das Spannungsverhältnis von innerer und äußerer Schönheit erkundet.

Regisseurin Pintilie setzt sich in radikaler Form mit zentralen Fragen nach körperlicher Nähe und Intimität auseinander. Die Farbe Weiß dominiert, in manchen Passagen ist das Setting laborartig futuristisch. Eine immer wieder zwischengeschnittene Filmkamera weist uns auf die dokumentarische Grundierung dieses Experimentalfilms hin. Touch me not spaltete Publikum und Kritik in zwei polarisierende Lager. Während einerseits der voyeuristische Charakter des Films aufgrund deutlicher Nacktheit, Zur-Schau-Stellung von körperlicher Behinderung und intimer Grenzüberschreitungen angeprangert wurde, lobten andere die Stilsicherheit und experimentelle Anordnung, die eine moderne, provokante Form des Kinos zutage fördert. Unabhängig von der eigenen Position hatte Touch me not jedoch wahrlich keiner als Hauptgewinner auf der Rechnung. Auch die Regisseurin schien ob dieser Entscheidung aufrichtig überrascht. Damit hat die Jury eine mutige, bemerkenswerte Entscheidung getroffen.

So schade es ist, dass die Filme von Petzold und Co. trotz ihres Potentials leer ausgingen, so richtig ist es, radikales, verstörendes Kino ins Rampenlicht zu rücken. Denn die kontroverse Debatte, die dadurch ausgelöst wird, setzt einen Erneuerungsprozess in Gang, der dem Kino als Ganzes nur gut tun kann.

Johannes Litschel