Zugespitzte Grenzsituation

„Sand und Seide“: ein neuer, brisanter Roman von Rainer Wochele

Ein Mann und eine Frau werden durch schicksalhafte Umstände zusammengeführt. Was ihre Leben unterscheidet, ist eine tiefe soziale Kluft. Gegensätzlicher könnten die beiden Mittdreißiger nicht sein: die erfolgreiche Unternehmerin aus der Modebranche, Chefin mehrerer Firmen, und der schuldlos von einer der oberen Sprossen der Karriereleiter abgestürzte Computerfachmann, der alles verloren hat; Familie, Besitz und Ansehen.
Schauplatz ist eine abgelegene Stelle im Bayrischen Wald, nahe der tschechischen Grenze.

Die Dame aus der Glamourwelt, die mit ihrem Porsche versehentlich auf einer Nebenstraße abgebogen und im Sand stecken geblieben ist, trifft auf den seit einigen Tagen neben einer Straßenbaustelle campierenden, zum Penner gewordenen Loser: das ist die Ausgangslage. Ohne Hilfe des Mannes, der seinen Esprit noch nicht ganz verloren hat und gerne Mozart pfeift, kommt die smarte, attraktive Geschäftsfrau in ihrem eng anliegenden Kostüm aus Seide nicht weiter. Eine Zwangslage, eine psychologisch sich zuspitzende Grenzsituation für beide.
Die Geschäftsfrau ist auf der Flucht, verdächtigt der Steuerhinterziehung, will über die Grenze, Brünn ist nicht weit. Übrigens die Stadt, in der der schon lange in Stuttgart lebende Schriftsteller Rainer Wochele 1943 geboren wurde.

Mit seinen Romanen, für die er sich immer viel Zeit nimmt, die akribisch erarbeitet sind, gehört er zu der selten gewordenen Gattung politisch engagierter Schriftsteller. Aber er ist auch einer, der ein hohes ästhetisches Niveau halten kann, der zu einer Sprache gefunden hat, die mit seinem lebhaften Temperament übereinstimmt. Eine Sprache, die mehr der Sinnlichkeit und Körperlichkeit verpflichtet ist als dem trockenen Nachdenken. Eine Sprache, die bisweilen heitere, fast tänzerische Züge annimmt und dadurch einen Ausgleich schafft zur Gewichtigkeit seiner Stoffe, diese aber nie verrät. Im Gegenteil zeigt Wocheles Verfahren nur deutlicher die Fallhöhe zwischen Glück und Unglück menschlicher Existenz.

Spätestens seit der „Flieger“-Novelle(2004) ist Rainer Wochele mit jedem seiner Bücher ein neues Wagnis eingegangen. Die Konstruktionen seiner Geschichten sind bisweilen kühn, aber bewältigen konnte er sie immer. Sein letzter Roman führte ihn weltpolitisch in weite Ferne, bis nach Ruanda. Auf der Basis genauester Recherche vor Ort, mit konkreten Beispielen von Tätern und Opfern, schildert er darin sehr ergreifend die Folgen des Völkermordes. Ein gewaltiges Unterfangen, das der Autor bewundernswert löste. Bei aller Problematik seiner Themen verfällt Wochele nie ins Belehrende, Anklägerische.

Er hat die heute seltene Gabe, Gesellschaftsromane zu schreiben. Sein Anliegen ist es, soziale und politische Missstände aufzuzeigen, ihre Folgen für den Einzelnen und das Zusammenleben. Jedoch nicht mit einem kalt sezierenden Blick, sondern mit Emphase, mit emotionaler und psychologischer Durchdringung. Was Wochele antreibt, ist pure Menschlichkeit.
Solches bestätigt sich auch in dem Roman „Sand und Seide“. Durch die geschickt in die Handlung eingewobenen inneren Monologe der beiden Figuren tun sich umfassende Erfahrungswelten, Innenräume und Abgründe auf. Wochele verdichtet die Handlung auf engstem Raum, was er so noch nie getan hat. Auch nicht in dieser detailliert und lebendig beschriebenen Naturnähe, in der nichts ausgelassen wird was da im Walde kreucht und fleugt.

Gerade durch die elementar vermittelte Umgebung gewinnt das existenzielle Aufeinandertreffen von Mann und Frau magische Kraft. Nach der zuerst schroffen, dann zunehmend erotisch aufgereizten Annäherung, kommt es zur Erkenntnis von Gemeinsamkeiten und schließlich zu einer wahren menschlichen Begegnung, der jedoch nur ein tragisches Ende bleibt. Das alles, die Dialoge, das rasante Duell der Geschlechter, die nunancenreiche Interaktion kann man sich auch gut als Bühnengeschehen vorstellen, als ein intensives Kammerspiel. Was nicht von ungefähr kommt, denn Wochele ist auch Dramatiker.
Rainer Wochele: „Sand und Seide“, Roman. Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen. 254 Seiten, 19,50 Euro.
Peter Frömmig