War’s das endlich? Ein Blick auf die Berlinale 2025
Man wird müde über die Entwicklung der Berlinale zu berichten. Seit Dieter Kosslick, der langjährige Alleinherrscher, in 2020 von seinen NachfolgerInnen abgelöst wurde, verging kein Jahr ohne Turbulenzen. Coronapandemie, Finanzlöcher, Kinoschließungen, öffentlich ausgetragene Streitereien, Profilausrichtungen hin und wieder zurück. Das blieb freilich nicht ohne Folgen: Das Programm litt, die Stimmung ebenso, viele hoben an zum endgültigen Abgesang des Festivals, das ja eigentlich im weltweiten Kanon Platz zwei hinter Cannes belegen möchte. In diesem Jahr gab dann die neue Intendantin Tricia Tuttle ihren Einstand, natürlich mit neuer programmatischer Ausrichtung. War’s das jetzt endlich mit Umbrüchen?
Zumindest gibt es Hoffnung. Die US-amerikanische Filmwissenschaftlerin, die zuvor 15 Jahre lang das London Film Festival leitete, gab sich selbstbewusst und weiß um den Neuanfang, der mit ihrer Person verbunden ist. Erwartet werden Stabilität und eine programmatische Profilschärfung, diesmal gerne auch nachhaltiger Natur. Um Taten sprechen zu lassen machte Tuttle die wichtigste Neuerung ihres Vorgängers Chatrian direkt rückgängig, nämlich die Einführung der Sektion Encounters, die vier Jahre lang experimentelles Kino beherbergte. Begründet wurde dies mit besagter Profilierung, gleichzeitig war die Botschaft klar: Der Geist des Neuanfangs treibt die Geister der unruhigen Vergangenheit erstmal aus. Im Gegenzug schuf Tuttle eine neue Kategorie namens Perspectives – ein Wettbewerb für Erstlingswerke und „eine sichtbare Plattform für außergewöhnliche neue Filmemacher*innen aus der ganzen Welt“. Ähnlich Chatrians Encounters ist auch hier nach dem ersten Jahrgang nicht so ganz klar, wo sich diese Sektion Vergleich zum Wettbewerb, Panorama und Forum verortet, die jeweils mit klarer Handschrift kuratierte Plattformen für genau das anbieten, was Perspectives nun sein will: Blick in die Welt, Erstlingswerke, formaler Wagemut. So fühlten sich die ersten Perspectives-Beiträge dann auch an: mäßig interessante Filme, die zwischen den Stühlen sitzen, nicht Fisch und nicht Fleisch – und entweder an anderer Stelle besser aufgehoben wären oder vielleicht auch den Ansprüchen eines A-Festivals nicht genügen. Nach wie vor hat die Berlinale damit ihr größtes Problem nicht behoben, nämlich das aufgeblähte und unübersichtliche Programm, dem es guttäte, würde es in der Gesamtheit um ein Drittel gekürzt und die qualitative Dichte erhöht werden.
Apropos qualitativer Dichte: Ein Zeichen setzte die neue Intendantin mit der Zusammenstellung des Wettbewerbs. 19 Filme gingen in diesem Jahr ins Bärenrennen und natürlich wurde ganz genau beäugt, wie sich das seit Jahren in der Kritik stehende Aushängeschild des Festivals unter neuer Leitung präsentiert. Traditionell hat die Intendanz des Festivals immer auch die künstlerische Gesamtverantwortung für den Wettbewerb inne. Skepsis machte sich kurzzeitig breit, als das mit Spannung erwartete Programm nahezu keine bekannten Namen enthielt. KennerInnen freuten sich über Radu Jude und Richard Linklater, waren sonst aber zunächst ratlos. Und außerhalb der Film-Bubble war das Wettbewerbsprogramm gänzlich nichtssagend. Allerdings: weit gefehlt! Nach holprigem Start zu Beginn zeigte sich schnell, dass die Filme nicht nur nach klarer Motivik zusammengestellt wurden, sondern sich die Unbekannten im Wettbewerb zu echten Entdeckungen wandelten.
Familie war das dominierende Thema der diesjährigen Wettbewerbsfilme. Dabei lag der Fokus in den meisten Filmen auf Frauenfiguren und Mutterrollen in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen. Dadurch entstand eine Art Kompendium, das es möglich machte, die Rolle der Frau innerhalb der Familie zu diskutieren. Genau das ist es, was einen Wettbewerb ausmachen sollte: eine konzeptuelle Zusammenstellung, die Kontexte herstellt und Debatten ermöglicht, die über die reine Filmbesprechung hinausgehen. Hier leistete die Berlinale unter neuer Führung 2025 ganze Arbeit!
Beispielsweise mit dem US-amerikanische Independentfilm „If I Had Legs, I’d Kick You“, in dem Rose Byrne eine Mutter spielt, die vom Alltag und der aus Arbeit, Kindererziehung und Krankheitsbewältigung bestehenden Lebensrealität gezeichnet ist. Ihr Scheitern hängt eng zusammen mit der permanenten Abwesenheit des karrieristischen Ehemannes, der die Familienpflege auf Telefonate beschränkt. Die Überforderung bekommt damit einen Kontext, der den Mann dezidiert in die Pflicht nimmt. Dadurch nimmt der Film der Regisseurin Mary Bronstein eine Perspektive modernen Feminismus‘ ein, der Scheitern nicht mehr als Makel sondern als legitime Erfahrung formuliert. Hauptdarstellerin Rose Byrne erhielt – nicht überraschend – für ihre intensive One-Woman-Show den Silbernen Bären.
Oder die mexikanische Produktion Dreams, in der Jessica Chastain eine reiche amerikanische Philanthropin spielt, die sich einen deutlich jüngeren mexikanischen Balletttänzer als Liebhaber hält. Die Unwucht der Beziehung ist offensichtlich und äußert sich nicht in Geschlecht, dafür in Alter, sozialem Status und ethnischer Zugehörigkeit. Toxisch und ohne Balance kippt das Beziehungsgefüge in eine Rachefantasie, deren schockierendes Ende eine politische Botschaft enthält.

Nicht zu verwechseln ist dieser Film mit dem ganz ähnlich klingenden Film „Dreams – Sex Love“ (Drømmer) aus Norwegen, der den diesjährigen Goldenen Bären gewann. Eine Teenagerin verliebt sich darin in ihre Lehrerin und verarbeitet die als Irritation empfundenen Gefühle schriftlich. Als Mutter und Großmutter – selbst Autorin – die Texte finden, konfrontiert sie das mit ihrer eigenen familiären Beziehung, und dann wird viel gesprochen. Ein Film, der ganz ohne männliche Figuren auskommt, dennoch aus der Feder des Regisseurs und Drehbuchschreibers Dag John Haugerud stammt. Ästhetisch erinnert der Film teilweise an einen Werbefilm mit in milchiges Licht getauchten Wohlfühl-Bildern. Die präsentieren ein angenehm ausgestattetes Akademikerinnenmilieu mit gut aussehenden Menschen, guten Gesprächen und skandinavischer Hygge-Gemütlichkeit. Hier provoziert und irritiert nichts. Keine mutige Entscheidung der Jury, die gleichwohl wenig überraschte – handelt es sich bei Drømmer doch um einen DER Kritiker- wie Publikumslieblinge des Festivals. Schon bald werden wir ihn wochenlang in den Arthouse-Kinos und den Open Airs des Sommers bestaunen können.
Das war’s dann also mit der Berlinale 2025, der ersten von Tricia Tuttle. Einiges deutet darauf hin, dass die nächsten Jahre in ruhigerem Fahrwasser verlaufen. Wollen wir es hoffen, denn gut täte es der Berlinale allemal.
Bildquellen
- So richtig hyggelig: Der Bären-Gewinner Drømmer des Regisseurs Dag Johan Haugerud: © Agnete Brun
- Feiert den Goldenen Bären für seinen Film Drømmer (Sex Love): Regisseur Dag Johan Haugerud: © Alexander Janetzko/Berlinale 2025