Musikerlebnis mit allen Sinnen: Das Freiburger Barockorchester und das Freiburger Institut für Musikermedizin richten sich an Menschen mit Hörbeeinträchtigung
Der erste Paukenschlag im Halbdunkel geht durch Mark und Bein. Die Dissonanzen von Streichern und Cembalo bedrängen, die Piccoloflöten erschrecken. „Les Elements“ von Jean-Féry Rebel beginnt mit „Le Cahos“. Musik als elementare Kraft – erlebbar mit dem ganzen Körper. Komponiertes Chaos, das aufwühlt. Das Freiburger Barockorchester ist bekannt für seine plastischen, klanglich geschärften Interpretationen. Aber an diesem Nachmittag im Freiburger Ensemblehaus ist die Wirkung dieser Musik noch viel stärker. Das Publikum sitzt in der Mitte und ist umgeben vom Orchester. Jeder Besucher darf seinen Hocker dorthin stellen, wo er möchte (Ausstattung: Fenja Garbe). Und während des Konzertes seinen Platz wechseln. Auch die Musikerinnen und Musiker ändern zwischen den Werken ihre Position. Die Trompeter spielen mal von hinten, mal von vorne. Die Violinen sind erst ganz nah, dann weit entfernt. Auch optisch wird das Konzert durch die Nähe zum besonderen Erlebnis. Man kann die Tonerzeugung sehen: die angespannten Gesichtsmuskeln der Bläser, die Bogenstriche und die Schlägel, die das Paukenfell in Schwingung versetzen.
„Miteinander Hören“ heißt das gemeinsame Projekt des Freiburger Barockorchesters und des Freiburger Instituts für Musikermedizin (FIM), das von der Hochschule für Musik und dem Universitätsklinikum getragen wird. Das mit Bundesmitteln geförderte Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit Höreinschränkungen besser in das Konzertleben zu integrieren. „Es interessiert uns, welche Bedeutung eine Hörbeeinträchtigung hat für den Konzertbesuch, für die Wahrnehmung von Musik und den Hörgenuss“, sagt Claudia Spahn, die gemeinsam mit dem HNO-Arzt Bernhard Richter das FIM leitet. Bei der detaillierten Publikumsbefragung im Herbst möchte man aber auch Antworten von Personen ohne Höreinschränkung bekommen, um zu erfahren, wie sich das Musikhören generell auf das Wohlbefinden auswirkt. Nach der genauen Datenanalyse steht in einem dritten Schritt ein Sonderkonzert am 23. März 2026 im Konzerthaus an, in dessen Gestaltung die gewonnenen Erkenntnisse fließen sollen.
Dass beim besuchten dritten Konzert am Sonntagnachmittag im Ensemblehaus die Zielgruppe des Formats, also Menschen mit Höreinschränkung, weitgehend fehlt, kann Hans-Georg Kaiser, Intendant des Freiburger Barockorchesters, nicht erklären. „Vielleicht liegt das an der Tabuisierung des Themas in der Gesellschaft. Oder am für unser Abo-Publikum ungewohnten Ort.“ Dass auch Menschen, die ein Hörgerät tragen, dieses Konzert, das mit Live Visuals (Sebastian Rieker) und einer dezenten Choreographie (Friederike Rademann) zusätzliche Reize bietet, ein intensiveres Musikerlebnis schenken könnte, steht für Kaiser außer Frage. Inklusiv ist es vor allem deshalb, weil es Personen ermöglicht, Musik sinnlich zu erleben, die sonst gar keine Musik hören können. Eine davon ist Ulrike Berger, die ein sogenanntes Cochlea Implantat trägt, eine Hörprothese für Gehörlose und Ertaubte. Sie wurde von Projektleiter Andreas Heideker direkt angesprochen und hat sich wie sechs weitere Personen mit Cochlea (Gehörschnecke) Implantat am Vortag auf den Weg ins Ensemblehaus gemacht. „Wir waren alle total berührt. Ich selbst hatte die Schuhe ausgezogen und spürte so die Vibrationen am Boden, aber auch das Sitzkissen leitete diese weiter.“ Seit Jahren hat die Geschäftsführerin der Deutschen Cochlea Implantat Gesellschaft (DCIG) kein Konzert mehr gehört, weil Musik durch das elektrische Hören verzerrt klingt. 22 Kanäle können die fehlenden 10 000 Hörsinneszellen nicht ersetzen. Während des Konzertes setzte sich Berger zwischen Laute und Cello. „Da ich mich auf diese beiden Instrumente konzentrieren konnte, hörte ich die Melodien sehr gut. Und durch meine Hand am Cembalo nahm ich die Tonschwingungen wahr. So kam auch die Harmonie und damit die Musik selbst bei mir wunderbar an.“
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- Musikerlebnis mit allen Sinnen: Das Freiburger Barockorchester und das Freiburger Institut für Musikermedizin richten sich an Menschen mit Hörbeeinträchtigung: Foto: Frank S. Fischer