Erinnerung Erster Weltkrieg

Im Gespräch: Gerd Krumeich, Historiker

Gerd Krumeich

Der Historiker Gerd Krumeich ist Spezialist für den Ersten Weltkrieg, in neuen Büchern geht er dessen Konsequenzen und unverarbeiteten Traumata nach. Zudem beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte Frankreichs und wirkt als einziger deutscher Historiker in einer internationalen Kommission mit, die aus der französischen Gedenkstätte Hartmannswillerkopf in den Vogesen einen deutsch-französischen Ort des Gedenkens und der Freundschaft machen wird. Mit Gerd Krumeich sprach unsere Mitarbeiterin Cornelia Frenkel.

Kultur Joker: Die Entfesselung des 1. Weltkriegs jährt sich zum hundertsten Mal. Im Gedächtnis von Deutschen und Franzosen hat dieser Krieg sehr unterschiedliches Gewicht. Wie äußert sich dies?
Gerd Krumeich: Es ist wirklich bemerkenswert, dass das Gedenken an den 1. Weltkrieg in Deutschland mausetot ist; sogar jetzt, wo wir uns alle um diesbezügliche Veranstaltungen bemühen und viele Bücher geschrieben wurden, kann von einem Kriegsgedenken nicht die Rede sein. Was wir in Deutschland betreiben, unterscheidet sich grundlegend von dem, was unsere west- und osteuropäischen Nachbarn tun, die alle noch ein sehr lebendiges Gedenken haben. Engländer, Franzosen und Belgier erinnern jährlich an die Millionen Toten des 1. Weltkriegs, das hat für sie größere Bedeutung als der 2. Weltkrieg.
Kultur Joker: Blieb die Erinnerung an den 1. Weltkrieg in Deutschland stets ein Zankapfel?

Gerd Krumeich: Festzustellen ist, dass die Deutschen nie zu einem gemeinsamen Gedenken gekommen sind, das fängt 1918/19 an, mit einer unverstandenen Kriegsniederlage und erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Rechts und Links durch die gesamte Weimarer Republik; man schob sich gegenseitig die Schuld für die Niederlage zu. Die Linke rühmte sich, den schrecklichen Krieg durch eine Revolution beendet zu haben, ihre Gegner machten daraus die Dolchstoßlegende. Hinzu kam der Versailler Vertrag, Deutschland musste unterschreiben, dass es den Krieg durch seine „Aggression“ verursacht habe. Sodann erhielten die Kriegsheimkehrer in der Weimarer Republik keine Ehrenbezeugungen und wurden oft als „Kriegskrüppel“ verhöhnt. Der Krieg wurde verdrängt, ebenso ein Totengedenken, das dem in den europäischen Nachbarländern vergleichbar wäre. Die Nazis haben diesen so genannten „Verrat am Frontsoldaten“ beklagt und den Angehörigen versprochen, dessen Ehre wiederherzustellen.
Kultur Joker: Wie sollte das bewerkstelligt werden?
Gerd Krumeich: Schon bevor die Nazis an die Macht kamen, haben sie sich systematisch als Bewahrer des Weltkriegserbes präsentiert. Nach 1933 haben sie dann Kriegsorden verteilt und Monumente eingerichtet – so wurde das Gedenken an den 1. Weltkrieg ein Nazigedenken. 1945 hat man all dies erneut abgeschafft, dann kam die „Fischer-Kontroverse“ in den 1960er Jahren, da ging es erneut um Deutschlands Schuld am 1. Weltkrieg – aber wieder nicht um Trauerarbeit. Aktuell organisieren wir alle möglichen Veranstaltungen, aufgrund von kritischen Nachfragen aus dem Ausland – denn Deutschland kann nicht eine Nation in der Mitte Europas sein, ohne mitzuwirken an der Erinnerung dieser gemeinsamen Geschichte. Die Deutschen haben lange zu bequem auf dem Standpunkt gestanden, dass die Geschichte ihrer Republik erst nach 1945 beginnt, das holt uns ein – Außenminister Steinmeier hat dies erstmals verstanden, Westerwelle hatte sich noch gedrückt.
Kultur Joker: Zehntausende deutscher und französischer Solaten kämpften im 1. Weltkrieg auf dem Hartmannswillerkopf bis zum Letzten, rund 30.000 Soldaten kamen auf dieser Bergkuppe ums Leben. Der Frontabschnitt war letztlich strategisch ohne Bedeutung, welche Vorstellungen bewegten also dieses blutige Gefecht?
Gerd Krumeich: Es handelt sich um einen absurden Schauplatz, das steckt bereits in Ihrer Frage. Der Hartmannswillerkopf hätte eine große Bedeutung haben können, wenn sich der Krieg nicht verlagert hätte. Zunächst haben die Franzosen offensiv im Elsass und in Lothringen angegriffen, die Deutschen aber hatten einen anderen Kriegsplan, nämlich durch Belgien zu ziehen und die Franzosen über Paris einzunehmen; Schliefen sagte, lass sie doch ruhig ins Elsass (damals deutsch) vordringen, sie werden umkehren, wenn wir in Paris sind. General Moltke hat dann im Elsass Befestigungen verstärkt, er wollte nicht tolerieren, dass Frankreich hier einbrach und die Bevölkerung verschreckte. Doch die Franzosen wollten dort grundsätzlich einen Durchbruch erzwingen; dabei wäre der Hartmannswillerkopf von großer Bedeutung geworden, aufgrund des operativen Vorteils von Berggipfeln, man konnte im Umkreis von 15 Kilometern alles kontrollieren, die Artillerie einweisen und hatte die Straßen im Griff. Als sich der Krieg nach Westen bewegte, an die Marne, ans Meer, wurde auf dem Harmannswillerkopf trotzdem weiter gekämpft, nach sturen militärischen Prinzipien: wer hat die besten Gebirgsjäger, wer baut die besten Schützengräben u.a.
Kultur Joker: Auf dem ehemaligen Schlachtfeld besteht ein „Nationaler Gedenkort“ (erbaut 1932), er umfasst einen Soldatenfriedhof, eine Krypta sowie ein Massengrab, in dem auch Gebeine deutscher Soldaten liegen. Rund 60 Kilometer Schützengräben und 600 Bunker sind erhalten. Dies alles soll nun deutsch-französisch durchdacht werden. Die Inschrift „Ici reposent des soldats français morts pour la patrie“ wurde bereits ersetzt; was soll noch verändert werden?
Gerd Krumeich: Zum ersten Mal soll nun, es hat lange gedauert, deutscher und französischer Soldaten gedacht werden, die dort umgekommen sind. Das erfordert die Ersetzung alter, traditioneller Inschriften – das ist sehr wichtig. Seit 2009 wehen übrigens bereits über dem Fort Douaumont bei Verdun die deutsche, französische und die europäische Fahne (leider bleibt Vandalismus nicht aus); hier gaben sich Kohl und Mitterand 1984 erstmals die Hand. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Gedenken wird der Hartmannswillerkopf jetzt zu einem nächsten starken Symbol.
Kultur Joker: Der französische Präsident François Hollande und Bundespräsident Joachim Gauck werden am 3. August den Grundstein für eine Informationsstätte („Historial“) auf dem Hartmannswillerkopf legen. Bald soll auch ein Geschichts-Parcours mit 45 Tafeln in drei Sprachen fertig sein. Sucht man mehr zu erreichen als nationale Sichtweisen?
Gerd Krumeich: Das wird eine große Herausforderung für die Zukunft, nicht nur für die Deutschen, sondern auch für Engländer, Franzosen und Belgier. Deutschland muss sich endlich am Kriegsgedenken beteiligen, aber zudem müssen die anderen Länder einsehen, dass die Deutschen diesen Krieg nicht geführt haben, weil sie sich die Weltmacht aneignen wollten, sondern weil sie überzeugt waren, ihr Vaterland zu verteidigten. Ein schwieriger Lernprozess, an dem man weiterarbeiten muss.
Kultur Joker: Sie behandeln das Thema in Ihrem Buch „Juli 1914 – Eine Bilanz“, die Deutschen hätten damals in der Vorstellung gekämpft, sie seien „eingekreist“, sie führten einen Präventivkrieg gegen Frankreich und Russland. Mit dieser Aussage wollen Sie jedoch die deutsche Kriegsverantwortung nicht auf ein gesamteuropäisches Krisenszenario abwälzen, wie es etwa Christopher Clark in „Die Schlafwandler“ unternimmt?
Gerd Krumeich: Für mich ist das viel komplizierter; liest man Christopher Clark, dann merkt man, wie der die Deutschen in Bezug auf die kriegsentscheidende Juli-Krise 1914 in Schutz nimmt. „Schlafwandler“, das sind Leute, die ohne Empathie für die anderen einfach ihren Weg gehen – damit hat er Recht, aber er entschuldigt Deutschland zu stark. Mein Standpunkt ist folgender: die Deutschen haben in der Vorkriegszeit nicht mehr Imperialismus betrieben als die anderen, auch die Verfestigung der Allianz-Systeme verursachten sie nicht allein. Aber in der Juli-Krise haben sie auf den Zünder gedrückt, das ist das Entscheidende! Warum? Fritz Fischer sagt, sie wollten nach der Weltmacht greifen und ich sage, dass sie sich in einer Verteidigungsposition sahen.
Kultur Joker: Kann man über diesen Krieg heute aus einer Perspektive reden, die mehr beschreibt als das, was der Krieg für die einzelnen Nationen jeweils bedeutet hat?
Gerd Krumeich: Zwar gibt es transnationale Phänomene, aber wir gehen stets aus nationaler Perspektive an die Probleme heran; wir können uns aber bemühen, international vergleichend zu argumentieren, indem wir das Wissen und die Denkweise der anderen zu verstehen suchen.
Kultur Joker: Weder Politik noch Zivilgesellschaft befassen sich in Deutschland ausreichend mit dem Gedenken an den Ersten Weltkrieg. Was wäre zu tun, um dem Geschichtsbewusstsein auf die Sprünge zu helfen?
Gerd Krumeich: Man muss den 1. Weltkrieg als bedeutendes Element unserer Geschichte wiederentdecken; dazu muss man auch die Weimarer Republik neu denken, sie aus dem 1. Weltkrieg und seinen Resultaten verstehen, nicht nur vom Nationalsozialismus her. Lehrer und Professoren sind aufgerufen, an diesen Fragen zu arbeiten. Ein Weltkriegsgedenken werden wir nicht hinkriegen, wir können nicht nachträglich Monumente errichten und die Leute auffordern, da Blumen abzulegen. Aber das private Interesse an den Vorfahren scheint stärker geworden, an deren Tagebüchern, Briefen … Zudem wäre viel gewonnen, wenn die Deutschen verstünden, dass das Gedenken an den 1. Weltkrieg für andere Nationen eine enorme emotionale Bedeutung hat.
Kultur Joker: Jährlich kommen rund 200.000 Besucher auf den Hartmannswillerkopf, mindestens die Hälfte sind Deutsche. Wie können weitere Besucher motiviert werden?
Gerd Krumeich: Dadurch, dass diese Gedenkstätte nun eine deutsch-französische Ausrichtung erfährt und die Geschichte informativer vermittelt wird, werden die Besucher vielleicht zunehmen. 200.000 kommt mir aber sehr hoch vor, in Verdun liegt die Besucherzahl niedriger. Das „Historial“ wird dem Gedenktourismus hoffentlich Auftrieb geben, seit den 1980er Jahren war er stark abgesackt.
Kultur Joker: Fast einmütig blies man in Deutschland zum 1. Weltkrieg als „Verteidigungskrieg“, Künstler und Wissenschaftler überhöhten ihn als „Verjüngungsbad“, im August 1914 stimmten gar die Sozialdemokraten für Kriegskredite, wenige Internationalisten opponierten. Wie wichtig scheint ihnen die Erinnerung an die Kriegsgegner, darunter die Kunstströmung Dada, die damals jedes Heldentum parodierte?
Gerd Krumeich: Die Sozialdemokraten waren bis Ende Juli 1914 strikt gegen den imperialistischen Krieg, als es dann aber um die nationale Verteidigung ging, oder vorgeblich ging, sind sie alle zu den Waffen gelaufen. Und selbst als die Begeisterung weg war, weil der Krieg anderes brachte als erwartet, blieb die Entschlossenheit. Die wenigen Kriegsgegner, die es gegeben hat, verdienen Respekt, weil sie mutig gegen die Mehrheitsmeinung waren, etwa Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.
Kultur Joker: Im Ersten Weltkrieg kämpften rund 30 Länder, und der europäische Kernkonflikt dehnte sich immer weiter aus, auf den Nahen und Mittleren Osten, auf Afrika und Ostasien. Welche Interessen standen dahinter und was wirkt bis heute nach?
Gerd Krumeich: War es ein Krieg oder haben sich mehrere Kriege unter ein Dach geflüchtet, fragt man sich zunehmend. War es ein Krieg der europäischen Großmächte, führte Europa Krieg in der Welt (weltweit suchten sich die Europäer Hilfstruppen für ihren Krieg)? Zudem gab es weitere, relativ unabhängige Kriegsszenarien von Ländern und Regionen, die ihre Konflikte im Schatten dieses großen Krieges austrugen – all dies zieht man im Nachhinein zum Weltkrieg zusammen. Hier bleiben wissenschaftliche Fragen für die Zukunft, z.B. in Bezug auf Briten, Araber und Deutsche, letztere versuchten, arabische Völker gegen die Briten aufzubringen, den Heiligen Krieg zu entfachen. Anderweitig lehnte man sich gegen den Imperialismus der Europäer auf – der Krieg entwickelte sich.
Die vergeblichen Bemühungen der Friedensmacher von 1919 – 1923 wirken heute noch nach, man wollte möglichst ethnisch reine Nationalstaaten schaffen, Wilson u.a. sahen die Sprengwirkung von multinationalen Staaten ausgehen. Doch jeder Ethnie ihre Nation zu geben, das ist jämmerlich gescheitert. Denn die Abgrenzungen sind sofort bestritten worden und haben zu Nachfolgekämpfen geführt, etwa zwischen Griechen und Türken, Albanern und Türken. Seit diesen 1920er Jahren sind große Flüchtlingsströme unterwegs, und da kommt dann, wie schon während des Krieges, die Idee auf, man könne einfach Hunderttausende verschieben, später dann Millionen in den Tod schieben – dieses kalkulierte Menschenschieben aller Art, das ist die wohl weitest tragende und schlimmste  Konsequenz des Ersten Weltkrieges.
Kultur Joker: Wir bedanken uns für das Gespräch.

Literatur:
– Gerd Krumeich. Der Erste Weltkrieg – Die 101 wichtigsten Fragen. 156 Seiten. C.H. Beck. München 2014
– Gerd Krumeich / Gerhard Hirschfeld. Deutschland im Ersten Weltkrieg. S. Fischer-Verlag. 2013
Gerd Krumeich. Juli 1914 – Eine Bilanz. Mit einem Anhang: 50 Schlüsseldokumente zum Kriegsausbruch. Schöningh-Verlag. Paderborn 2014