Die Ignoranz der Gemeinderatsmehrheit: Licht und Schatten bei der Aufarbeitung der Waldkircher Stadtgeschichte während der NS-Zeit
Bis heute scheint es vor allem kleineren Städten und Gemeinden schwerzufallen, sich ihrer Vergangenheit zwischen 1933 bis 1945 offensiv und rücksichtslos zu stellen. Erst 1989 beschloss eine knappe Gemeinderatsmehrheit in Waldkirch, die damals stattfindenden Kulturtage dem Thema „Waldkirch 1939 – davor und danach“ zu widmen. In diesem Zusammenhang wurde bekannt, dass der angesehene Waldkircher Bürger Karl Jäger bereits vor Hitlers Machtübernahme in der NSDAP aktiv und später nach steilem Aufstieg in der SS als Standartenführer in Litauen für die Ermordung von 138000 Litauer Juden verantwortlich war. Einen weiteren Impuls setzte 2011 das Erscheinen der von dem Waldkircher Historiker und Friedensforscher Wolfram Wette verfassten wissenschaftlichen Biographie über den Massenmörder. Zahlreiche Waldkircher engagierten sich daraufhin in der Ideenwerkstatt „Waldkirch in der NS-Zeit“ und etablierten äußerst aktiv und akribisch eine schonungslose Erinnerungs- und Aufdeckungskultur. Enge Verbindungen zu Zeitzeugen des Holocausts in Litauen wurden geknüpft, der Filmemacher Jürgen Dettling leitete ein Mehrgenerationen-Filmprojekt mit dem Titel „Karl Jäger und wir“ und mit großer Unterstützung aus der Bevölkerung und einer dünnen Gemeinderatsmehrheit konnte ein unübersehbares Mahnmal in unmittelbarer Nähe der Barockkirche im Gedenken an den Litauer Massenmord errichtet werden.
Doch damit nicht genug
In der Folge wurden von der Ideenwerkstatt weitere Forschungsarbeiten zu zahlreichen Themenkomplexen vorangetrieben. Im Laufe der Zeit erwuchs ein von insgesamt 27 AutorInnen erarbeiteter veritabler Materialberg, koordiniert von Wolfram Wette als „Spiritus Rector“.
Das Ganze mündete in die Realisierung eines Buchprojekts mit dem Titel „Hier war doch nichts! – Waldkirch im Nationalsozialismus“ (Januar 2020). Auf mehr als 500 Textseiten – versehen mit einem wissenschaftlichen Normen entsprechenden Anmerkungs- und Nachweisteil – entstand ein akribisch belegtes Bild der lokalen Nazi-Vergangenheit und der Schleier des bequemen Schweigens war ein für alle Male gelüftet. Entscheidend dabei waren ein durch eine Gemeinderatsmehrheit erwirkter Zuschuss von 25000 € für Layout- und Druckkosten sowie ein finanzielles Entgegenkommen des produzierenden Donat-Verlags. Die CDU-Fraktion stimmte geschlossen gegen den Antrag. In der Debatte wurde von der Minderheit die lokale Geschichtsforschung als öffentliche Aufgabe in Zweifel gezogen und stattdessen zu einer Privatangelegenheit erklärt, die man nicht bezuschussen brauche – Kindergärten seien wichtiger. Was das eine mit dem anderen zu tun hat, verblieb allerdings im Dunkel.
Reaktionen von außen
Nach Veröffentlichung stieß die lokalhistorische Dokumentation bei Tages- und Kulturzeitungen auf großes Interesse. Zahlreiche Rezensionen – auch im Kultur Joker – urteilten positiv über das kollektive Mammutprojekt, vor allem im Hinblick auf die Art seiner Entstehung „aus der Gesellschaft für die Gesellschaft“. Nicht zuletzt auch als Prophylaxe gegen aktuelle und künftige Entwicklungen in ähnlicher Richtung.
„Oder doch?“
Bestärkt durch den großen Widerhall, z.B. durch die Verleihung des Rahel-Straus-Preises der Landesarbeitsgemeinschaft „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ –, arbeitete die Ideenwerkstatt unter dem neuen Namen „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ weiter und organisierte u.a. öffentliche Veranstaltungen. Dadurch wurde die Beschäftigung mit der NS-Zeit kontinuierlich wachgehalten. So konnte die Badische Zeitung im November 2021 mit guten Gründen resümieren: „Hier war doch nichts!“ sagt im Elztal niemand mehr.“
Herausgeber Wolfram Wette und die Ideenwerkstatt machten sich nun daran, ihrem Buch zur Waldkircher Geschichte einen weiteren Band folgen zu lassen, der die Untersuchungs- und Dokumentierungsarbeit des ersten Buches einerseits weiterführte und andererseits der Darstellung von dessen komplexem Entstehungsprozess mit allen Höhen und Tiefen Raum bot. Erneut getitelt mit „Hier war doch nichts“, allerdings mit dem optimistischen Zusatz „sagt in Waldkirch niemand mehr“. Erneut wurde beim Gemeinderat ein Antrag auf Bezuschussung gestellt, diesmal über 1000 €.
Freilich hatten sich die Mehrheitsverhältnisse nach der Wahl von Michael Schmieder (FWV) im März 2023 zum OB gedreht und die nunmehr konservative Mehrheit von CDU, FWV plus OB sahen sich ob der angespannten Finanzlage außerstande, diesem Wunsch zu entsprechen. Angesichts eines Haushaltsumfangs von 70 Millionen € ein sehr schwaches Argument und da auch wieder die Position Stadtgeschichte sei Privatsache auftauchte, wohl ein schäbig vorgeschobenes. Herausgeber und Ideenwerkstatt beschlossen daraufhin, den Titel des zweiten Bandes um die Frage „ODER DOCH?“ zu erweitern.
Dessen ungeachtet konnte das Buch durch emsiges Bemühen um Sponsorengelder und erneutes Entgegenkommen des Donat-Verlags erscheinen. Die Buchpräsentation fand am 18. März 2025 im voll besetzten katholischen Gemeindezentrum in Waldkirch statt, nachdem bei der Stadt vergeblich um einen geeigneten Veranstaltungsraum angefragt worden war. Der ehemalige Staatsminister im Auswärtigen Amt Gernot Erler (SPD) hielt die Laudatio voll des Lobes für dieses „herausragende Beispiel demokratischer Erinnerungskultur“ und Verleger Helmut Donat geißelte das ignorante Verhalten der Gemeinderatsmehrheit mit harten Worten: „Die läppischen 1000 €, die verwehrt wurden, sind ein Kainsmal auf der Stirn jener, die dafür verantwortlich sind.“ So ist es!
Wolfram Wette (Hrsg): „Hier war doch nichts“ sagt in Waldkirch niemand mehr – ODER DOCH . Donat Verlag Bremen
Bildquellen
- Wolfram Wette (Hrsg): „Hier war doch nichts“ sagt in Waldkirch niemand mehr – ODER DOCH .: Donat Verlag Bremen
- Herausgeber und Autor Wolfram Wette beim Mahnmal für die auf Befehl von Karl Jäger exekutierten 138.000 Juden in Litauen: Foto: E. Krieger