Die Geisteswissenschaften und die Herausforderungen des Anthropozäns

Seit seiner Einführung zu Beginn des 21. Jahrhunderts durch die Wissenschaftler Paul Crutzen und Eugene F. Stormer und der Übernahme als offizielle Bezeichnung eines 1950 beginnenden neuen geologischen Zeitalters, das das Holozän abgelöst und in dem der Mensch zum geologischen Faktor geworden ist, hat der Begriff Anthropozän eine steile, wenn auch nicht unumstrittene Karriere gemacht. Mit Blick auf die gerade beendete und mehr von Enttäuschung als Durchbruchsstimmung charakterisierte UN-Klimakonferenz in Glasgow spielt er eine heute mehr denn je bedeutende Rolle in der Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten mit den selbstverursachten globalen Problemen fertig werden kann und will: Klimawandel, Entwaldungen, Artensterben und natürlich die zunehmende Gefahr von Pandemien. Von den Klimaaktivist*innen wird richtigerweise gefordert, dass die internationale Politik angesichts der ökologischen Krise endlich auf die Wissenschaft hören soll, wobei damit die Naturwissenschaften gemeint sind, die bereits vor Jahrzehnten mit ihren Klimamodellen die Folgen unseres Lebensstils vorausgesehen und davor gewarnt hatten. Wenn uns tatsächlich nur Physik und Chemie erklären können, welche Prozesse in der Atmosphäre von unserem Tun in Gang gesetzt werden und wie sie das Leben auf der Erde bedrohen, sind zur Überwindung dieser Krise auch die Geistes- und Kulturwissenschaften gefragt, denn die Umstellung unseres Lebensstils und eine ernsthafte Verantwortungsübernahme gegenüber unserem Planeten werden nicht ohne ein kritisches Hinterfragen des geschi
Einen solchen Beitrag zu leisten versuchen zwei jüngst erschienene Bücher, die beide ihren Fokus auf das moderne Selbst- und Naturverständnis legen. Es ist eine verbreitete Annahme, dass sich in der Moderne eine Trennung zwischen Natur und Kultur etabliert hat, die sich für die erstere als verhängnisvoll erwiesen hat, wurde sie ja zum bloßen materiellen Fundus im Dienste der menschlichen Interessen degradiert. Eine solche verkürzende Naturauffassung ist zwar schon lange in Frage gestellt worden (man denke nur an Autoren wie Heidegger und Adorno), sie ist aber hartnäckig und noch heutzutage leitend für unsere Welterfahrung. Dementsprechend gilt es nach wie vor, ihr entgegenzuwirken, indem ihre geschichtlichen Voraussetzungen untersucht und ihr alternative Konzepte der Natur und der Stellung des Menschen in ihr entgegengestellt werden, die von der Philosophie, der Literatur, der Rechtswissenschaft erarbeitet werden. Die Pointe der neuen Veröffentlichungen liegt darin, dass sie in derselben Moderne konzeptuelle Ressourcen für den Aufbau eines respektvollen Umgangs mit der Natur auffindbar machen.

Anthropozän – Klimawandel – Biodiversität
Der von Stascha Rohmer und Georg Toepfer herausgegebene Sammelband „Anthropozän – Klimawandel – Biodiversität. Transdisziplinäre Perspektiven auf das gewandelte Verhältnis von Mensch und Natur“ (Verlag Karl Alber, 2021) verfolgt genau dieses Ziel. Er geht auf eine internationale Tagung zurück, in der Wissenschaftler*innen unterschiedlicher fachlicher Provenienz zusammengekommen sind, um auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften Ansätze zu erproben, die der gegenwärtigen Krise in sowohl diagnostischer als auch therapeutischer Hinsicht gerecht werden. In Bezug auf den ersten Aspekt waren insbesondere die Philosophen dazu aufgerufen, zu einer Klärung der Implikationen von allgegenwärtigen aber in der alltäglichen Verwendung oft unzureichend reflektierten Begriffen beizutragen, wie das gerade beim „Anthropozän“ der Fall ist.
Wie Eva Raimann in ihrem Aufsatz zeigt, wird das interpretatorische Potential dieses Ausdrucks erst dann völlig ausgeschöpft, wenn er konsequent zur Durchbrechung der tradierten Dichotomie Natur-Kultur eingesetzt wird, wenn auch eine solche Opposition in der Begriffs­entstehung zum Teil mitspielte. Es geht nämlich nicht darum, wie der Begriff nahelegen könnte, die Natur als eine vom menschlichen Handeln bis vor Kurzem wesentlich unangetastete Sphäre zu betrachten, in die der Mensch seit Beginn der Industrialisierung gewaltig als Antagonist eindringen würde. Es geht um ein Verständnis der radikalen Eingebundenheit des Menschen in die natürlichen Prozesse, welche unter der von der bedrohten Natur ausgehenden Bedrohung für den Menschen als eine Spezies unter anderen womöglich zum ersten Mal konkret erfahrbar wird. zusammenzuführen.
Dabei rücken die Dimensionen der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in ein anderes, unheimlicheres Licht.
Eine Verflüssigung der Grenzen zwischen Natur und Kultur mit Blick auf die jeweiligen Zeitskalen steht im Zentrum des Beitrags von Eva Horn, die ausführt, wie der Übergang vom Holozän ins Anthropozän die Notwendigkeit, aber auch die Schwierigkeit mit sich bringt, Menschengeschichte und Erdgeschichte zusammenzuführen.
Auch der Begriff der Biodiversität wird von Georg Toepfer einer gründlichen historischen Rekonstruktion unterzogen, wobei der Autor gerade auch auf die problematischen Züge dieses in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts hoch im Kurs stehenden Schlagworts aufmerksam macht. Der Schutz der Biodiversität und der Kampf gegen den Klimawandel bilden das Thema folgender, rechtswissenschaftlicher Beiträge. Zum einen wird die Dringlichkeit dieser Aufgaben anhand einer Rekognition der bereits katastrophalen Lage in den lateinamerikanischen Ländern, vor allem Brasilien – die Umweltpolitik des amtierenden Präsidenten Bolsonaro wird dabei von Felipe Calderon-Valencia scharf kritisiert – und Kolumbien, veranschaulicht. Zum anderen stellt Lateinamerika den Schauplatz der interessantesten Anstrengungen dar, den Wert der Natur jenseits eines anthropozentrischen Standpunktes auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht zur Geltung zu bringen. Dabei kann ein im sogenannten nuevo constitucionalismo entwickelter biozentrischer Ansatz, der die Natur als Trägerin von Rechten ansieht, durchaus an die Weltanschauung indigener Völker mit dem für sie zentralen und der abendländischen Opposition zwischen Natur und Kultur fremden Prinzip der Mutter Erde anknüpfen.
Diese in unserem Denken verankerte, fatale Teilung lässt sich jedoch gleichsam nicht nur durch den Rekurs auf außerhalb unserer Zivilisation entwickelte Vorstellungen, sondern auch von Innen sprengen. Wie Stascha Rohmer in dem abschließenden Beitrag des Bandes zeigt, sind auch in der philosophischen Tradition von der Antike bis in dieselbe Moderne Ansätze zu finden, den Eigenwert der Natur angemessen zu fassen, sie stehen allerdings in einem Spannungsverhältnis zu einem von Descartes mit seiner Unterscheidung von rex cogitans und rex extensa eingeführten materiellen Reduktionismus der Natur auf ihre mechanischen Eigenschaften, der eine Verbannung von teleologischen Prinzipien aus der Naturerklärung und damit einhergehend die Verkennung der Selbstzweckmäßigkeit der Natur implizierte. In diesem Sinne gilt Descartes als Begründer des modernen Wirklichkeitsverständnisses, in dessen Koordinaten die Natur „nur als Rohstoff für die wissenschaftliche Produktion dient“ und ihren Eigenwert einbüßt. Zwar habe es nach Descartes an Brechungen dieser Gesamteinstellungen nicht gefehlt: in seiner ästhetischen Theorie hat Kant die Idee von immanenten Zwecken der natürlichen Organismen gerettet, obwohl nur in heuristischer Hinsicht, während Hegel noch einen Schritt weiter in Richtung einer Anerkennung des Eigenwerts der Natur gegangen ist, indem er neben der teleologischen Struktur der Organismen ihre gegenseitige Bezogenheit thematisiert, und damit zumindest im Ansatz ein Naturganzes denkbar gemacht hat, in dem auch der Mensch ein Bestandteil ist. Diese Keime eines anderen Umgangs mit der Natur sind in der Moderne nicht wirklich zum Tragen gekommen, die Trennung zwischen Mensch und Natur ist auch bei Kant und Hegel leitend und ist in der Folgezeit dominant geblieben. Jedoch ist es ein gemeinsames Anliegen der Autoren des Sammelbandes, nicht nur zu den modernen Denkern auf Distanz zu gehen, sondern die in ihren Entwürfen enthaltenen fruchtbaren Impulse weiterzuentwickeln, um die Stelle des Menschen in der Natur und seine Verantwortung ihr gegenüber neu zu definieren. Wichtige moderne Referenzpunkte sind Helmut Plessner (in dem Beitrag von Joachim Fischer) und Alfred North Whitehead mit seiner Prozessphilosophie, die die cartesischen Dichotomien ablehnt und eine alle Lebewesen einbeziehende „Solidarität des Universums“ zu denken erlaubt.

Kant, Herder, Goethe und die Gegenwart des Klimas
Die Idee, dass alles mit allem zusammenhängt, und dass zwischen Natur und Kultur nicht eine Trennung als vielmehr fluide Übergänge bestehen, findet sich im Zentrum der ökologischen Theorien der Gegenwart. In ihrem Buch „Übergängliche Natur. Kant, Herder, Goethe und die Gegenwart des Klimas“ (August Akademie, 2021) meint Hanna Hamel, in den im Titel aufgeführten Autoren „alternative Denk- und Darstellungsweisen von Natur und Kultur“ auffinden zu können, „die deren Verhältnis nicht als simple Opposition, sondern von vornherein in Verflechtung […] entwickeln“. Um solche auf Anhieb nicht immer ersichtlichen Züge des modernen Denkens ans Licht zu bringen, setzt sie die historischen Positionen mit aktuellen Theorien jenseits rekonstruierbarer Genealogien in Verbindung. Indem Hamel vergangene und gegenwärtige Überlegungen zum Klima abwechselnd diskutiert – Kant/Latour, Herder /Morton und Goethe/Lynch – verdeutlicht sie, wie stark das Interesse der Autoren des 18. Jahrhunderts an einer „Dynamisierung des Natur-Kultur-Verhältnisses, an der Darstellung ihrer durchdringenden und wechselseitigen Einflussnahme und an der Auflösung starrer Grenzziehungen und Dichotomien“ schon war, und lässt auf dieser Weise ein viel bewegteres Bild der modernen Naturentwürfe entstehen, als es üblicherweise angenommen wird. Durch eine penetrante Lektüre der anthropologischen Schriften Kants zeigt die Autorin, dass der Mensch darin nicht auf Distanz zur Natur, sondern als dezidiert natürlich und historisch lokalisiert verstanden wird. So konzipiert entspricht ein solcher Mensch überraschend sogar den Aufforderungen Bruno Latours zum Aufbau eines menschliche und nicht-menschliche Wesen versammelnden „Parlament der Dinge“, in dem auch letztere adäquat vertreten werden sollen. Bei Herder wird die Vernetzung zwischen Menschen und Natur ästhetisch gefasst, wobei sich interessante Parallelen zu Timothy Mortons ökologischen Überlegungen ergeben. Besondere Aufmerksamkeit widmet Hamel Goethes Annäherungsversuchen an natürliche Phänomene wie die Witterung, die über ein Zusammenspiel wissenschaftlicher und ästhetischer Ansätze erfolgen. Auf dieser Weise bricht Goethe mit dem zu seiner Zeit beherrschenden wissenschaftlichen Weltbild und deutet indirekt die Möglichkeit eines nicht auf Dominanz ausgerichteten Umgangs zu Natur an. In diesem Sinne hätte nach Hamel derselbe Latour Recht mit seiner den Titel eines seiner wichtigsten Bücher bildenden Feststellung, dass „wir […] nie modern gewesen [sind]“, und zwar in größerem Maße, als von ihm selbst vermutet: es stimmt nämlich, dass die moderne Gesellschaft und das moderne Denken nie strikt nach der von Descartes eingeführten Trennung haben funktionieren können.Das ist freilich nicht zu bedauern, im Gegenteil: man darf sich nur darüber freuen, vor den Herausforderungen des Anthropozäns Verbündete solchen Rangs wie Kant, Herder und Goethe neben sich zu wissen.

Stascha Rohmer (Herausgeber), Georg Toepfer (Herausgeber), „Anthropozän – Klimawandel – Biodiversität.Transdisziplinäre Perspektiven auf das gewandelte Verhältnis von Mensch und Natur“, Verlag Karl Alber, 2021 (ZfL)
Hanna Hamel, „Übergängliche Natur. Kant, Herder, Goethe und die Gegenwart des Klimas“, August Akademie 2021 (ZfL).

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