Kriegsende 1944/45 im annektierten Elsass und am Oberrhein: Zeit-Zeugnisse der „Befreiung“ und Literarisches zum Thema
Auch 80 Jahre nach der zerstörungsreichen Endphase des Zweiten Weltkriegs ist überall im damals annektierten Elsass-Moselle an die „Libération“

Auch 80 Jahre nach der zerstörungsreichen Endphase des Zweiten Weltkriegs ist überall im damals annektierten Elsass-Moselle an die „Libération“ vor 80 Jahren erinnert worden. Erbittert kämpfte die deutsche Wehrmacht zuletzt im „Brückenkopf Colmar“ (Poche de Colmar), der erst am 9. Februar 1945 befreit werden konnte. Um ihre Niederlage aufzuhalten, startete die NS-Diktatur noch an Silvester 1944 das „Unternehmen Nordwind“ und rief zum „Volkskrieg am Oberrhein“ auf, rund 22.500 deutsche Soldaten und zahlreiche Funktionäre befanden sich noch in der Region. Diese Situation beleuchtet der Historiker und Psychologe Burkhard Hoellen mit dem Buch „Krieg ist Krieg und muss aufgezeichnet werden“; geplant hat er es mit Tomi Ungerer (1931-2019), nachdem beide das Kriegstagebuch des katholischen Gemeindepfarrers René Schickelé aus Logelbach bei Colmar entdeckten, wo Ungerer während der NS-Zeit gelebt hat. Neben diesen beiden Zeitzeugen bereichern weitere Beobachter, die damals im südlichen Elsass präsent waren, die Publikation: der Maler Joseph Steib und die Kriegsreporterin Lee Miller.
René Schickelé. Kriegschronik eines katholischen Pfarrers „Hochmut kommt vor dem Fall“
Im Buch „Krieg ist Krieg“ wird die Chronik von René Schickelé (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Schriftsteller) erstmals vollständig und in (deutscher) Originalsprache abgedruckt, sie umfasst den Zeitraum vom 8.12.44 – 9.2.1945. Der Pfarrer wählte für seine Notate ein unscheinbares Heft, das 1893 angelegt worden war; es enthält auch Einträge von anderer Hand, etwa aus dem Jahr 1943, als die Gestapo das Pfarrhaus in Logelbach durchsuchte, das verdächtigt wurde, Geheimagenten zu beherbergen. Die Aufzeichnungen Schickelés lassen, obwohl vorwiegend deskriptiv, keinen Zweifel an seiner Ablehnung der NS-Macht und den Auftritten „grimmiger Soldaten“. Beeindruckend sind aber zuletzt seine Berichte von Menschen, die wochenlang angstvoll in Kellern festsitzen, teils verwundet, ihre Toten notdürftig begrabend – geängstigt durch Geräusche von Explosionen, Panzern und Maschinengewehren sowie von vagen Gerüchten, dass die nahe gelegenen Dörfer Bennwihr, Sigolsheim, Kientzheim, Ingersheim beschossen wurden und die Bewohner fliehen. Flammen lodern zum Himmel. Doch endlich die erleichternde Ankunft der Amerikaner ….
NS-Projekt Vertreibung und „Um-Erziehung“ starrköpfiger Elsässer
Burkhard Hoellen rekapituliert in einem Kapitel auch, welche psychologischen Mechanismen die Annexion des Elsass seit 1940 bei den Beherrschten auslösen konnte, als nämlich über 45.000 „Unerwünschte“ und „volksschädliche“ Elemente bedroht und sofort ausgewiesen wurden. Wer sich nicht gleichschalten ließ, musste Repressalien erfahren. Nicht alle waren von Anfang an gegen die Deutschen, aber doch blieb die Zustimmung gering, selbst wenn Hunderte von Beamten und Polizisten aus Baden und Württemberg abgeordnet waren, um die Bevölkerung zu unterwerfen, mit Dressur, Schikane, Straflager Schirmeck, KZ Natzweiler, Arbeitsdienst, SS, „Sippenhaft“ und „Treuebekenntnis“ zum Führer als Voraussetzung für den Schulbesuch der Kinder.
Joseph Steib (1898-1966) – Ein Maler im klandestinen Widerstand
Mit eindringlichen Gemälden reagierte der „Sonntagsmaler“ Joseph Steib auf die NS-Okkupation, die alle Lebensbereiche zu vereinnahmen drohte; geboren in Mulhouse wirkte Steib an seinem bescheidenen Küchentisch in Brunstatt. Mit rund 57 Bildern prophezeite er lange vor Kriegsende den Untergang des NS-Regimes, stellt „Hitler in der Hölle“ dar und erzählt in seinem „Salon der Träume“ vom dezidierten Widerstand gegen die Beherrschung seiner Existenz. Das Buch von Burkhard Hoellen legt diese Geschichte ausführlich dar, inklusive zahlreicher Abbildungen sowie Exkursen zu anderen Malern, die in die verbrecherische Gewalt der Shoah gerieten und darauf mit Bildwerken reagierten, so Pavel Fantl (1903-1945) und Esther Lurie (1913-1998). Joseph Steib hat sich eine atemberaubende Parallelwelt gegen die Tyrannei geschaffen; schon in einem 1943 entstandenen Gemälde „Mulhouse jubelt“ versammeln sich die Bürger der Stadt unter der Trikolore; er phantasierte die Befreiung herbei, so auch in dem Bild „Und der Traum verwirklichte sich“. Damit stellte er eine außerordentliche Fähigkeit zur Individualität unter Beweis.
Lee Miller – Klarsehende Kriegsfotografin
Die amerikanische Kriegsberichterstatterin Lee Miller hat fotojournalistisch das Ende des Zweiten Weltkriegs begleitet, vieles davon veröffentlichte ihr Sohn Antony Penrose erst 1992. Ihre Reportagen umfassen die Ankunft der Alliierten in der Normandie 1944 sowie die Befreiung von Saint-Malo und Paris. Im Januar 1945 setzt sie ihre Bildreportagen in den Ardennen und im Elsass fort; danach begleitete sie die Befreiung der KZs Buchenwald und Dachau. Etwa 60.000 Negative zeugen davon (www.leemiller.co.uk). Miller hat von den grausamen Befreiungskämpfen im Elsass Bilder und Berichte hinterlassen, die den Starrsinn der NS-Führung zeigen und u.a. viel Empathie für die tödlich getroffene Bevölkerung aufbringen. Sogar nach der Befreiung Straßburgs im November 1944 harrten Hitlers Truppen auf der rechten Rheinseite; indessen hielt die „Brigade indépendante Alsace-Lorraine“ alleine die Stellung, während die französischen und amerikanischen Befreier in die Ardennen aufbrechen mussten, wo das NS-Militär eine Gegenoffensive startete. Mit Lee Millers markanter Lebensgeschichte hat sich im Jahr 2024 ein Film der Regisseurin Ellen Kuras befasst, ausgehend von dem Buch „Lee Miller‘s War“, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt und Burkhard Hoellens Publikation bestens ergänzt: „Krieg. Reportagen und Fotos. Mit den Alliierten durch Europa 1944-45“. Die Lektüre geht unter die Haut.
Tomi Ungerer „Nicht wahr“?
Mit Ausführungen von und zu Tomi Ungerer wird das Buch beendet. An diesem Künstler sind manche Phrasen aus der NS-Zeit lebenslänglich haften geblieben, wie er bemerkt hat, etwa “Denket nicht, der Führer denkt für euch (…).“ In seinem Buch „Die Gedanken sind frei. Meine Kindheit im Elsass“ (soeben neu aufgelegt), vermittelt er Einblicke in die Geschichte des oftmals zwischen Frankreich und Deutschland hin und her gezerrten Elsass. Zudem erzählt er von den alltäglichen Erlebnissen seiner Jugend in Logelbach bei Colmar, er war neun Jahre alt, als NS-Truppen 1940 die Region besetzten, Deutsch als offizielle Sprache verordnen und Französisch verbieten. So muss aus Jean-Thomas, von allen Tomi genannt, ein deutscher Hans werden, der in der Schule „Sütterlinschrift“ verordnet bekommt und ein Hakenkreuz sowie einen „Juden“ malen soll, was ihm unverständlich bleibt, aber zunächst harmlos scheint. Erst später kommen ihm die Vorgänge und Ereignisse klarer zu Bewusstsein; in seinem Buch „Nicht wahr“ analysiert er etwa die Vernichtungsaktionen der Nazis und konfrontiert deren Propagandafotos (auf denen sich der „Führer“ gerne leutselig im Kreise von Kindern präsentiert) mit Auszügen aus dem Buch von Curzio Malaparte „Kaputt“, Reportagen von der Ostfront der Jahre 1941-1943, die das eiskalte deutsche Mordprogramm gegen den Bolschewismus und die jüdische Bevölkerung fokussieren, von denen viele angeblich nichts gewusst haben konnten. „Nicht wahr“?
• Burkhard Hoellen. Krieg ist Krieg und muss aufgezeichnet werden. Dgvt-Verlag. Tübingen 2021
• Tomi Ungerer. Die Gedanken sind frei. Meine Kindheit im Elsass. Erweiterte Neuausgabe mit unveröffentlichten Dokumenten und Zeichnungen. Diogenes Verlag 2025
• Tomi Ungerer. Nicht wahr? New York 1966
• Pétry, François. Joseph Steib – Maler des „Salon der Träume“. Verlag Michael Farin. München 1999
• Cattin, P.-A. Logelbach: La chronique de guerre du curé Schickelé. Annuaire de la Societé d’Histoire de Wintzenheim, No.9. 2005
• Antony Penrose (Hg.). „Lee Miller Krieg. Reportagen und Fotos. Mit den Alliierten durch Europa 1944-45“. Aus dem Englischen von Andreas Hahn und Norbert Hofmann. Ed. Tiamat. Berlin 2024