Im Gespräch: Jean Ziegler – Flüchtlinge vor den Toren Europas

Der Soziologe Jean Ziegler, ehemals Abgeordneter im Schweizer Parlament und Mitarbeiter der UNO, ist als scharfer Kritiker des Finanzkapitals bekannt sowie als Stimme der Armen. Auch in seinem neuesten Buch „Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten“ prangert er Unerträgliches an, Hunger, Elend und die Vertreibung von Bevölkerungen durch Profitgier und Kriege.
Er glaubt an die aktive Kraft des Gewissens und an die Zivilgesellschaft, in der sich zahlreiche Organisationen für humanitäre Ziele engagieren. In seinem neuesten Buch nimmt er vor allem die Lage im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos in den Blick, die von Tag zu Tag dramatischer wird und die griechische Regierung überfordert. Die Zahl der in den fünf Hotspots der Ägäis festsitzenden Flüchtlinge schätzt das UN-Hochkommissariat Ende letzten Jahres auf 39.000 Menschen; vorgesehen ist die Einrichtung jedoch nur für 6.400 Personen. Auch für die alteingesessenen Inselbewohner ist die Situation unerträglich, sie protestieren regelmäßig. Unsere Mitarbeiterin Cornelia Frenkel hat Jean Ziegler zu dieser Tragödie befragt.

Kultur Joker: Sie Herr Ziegler haben als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschrechtsrats im Mai 2019 das EU-Flüchtlingslager Moria auf Lesbos besucht und bezeichnen die Situation auf verschiedenen griechischen Inseln als beschämend für die europäischen Staaten.

Jean Ziegler: In der Tat. Die Situation dort ist für die europäischen Staaten eine Schande. Sie untergräbt ihr moralisches Fundament.

Kultur Joker: Anhand von Einzelfällen schildern Sie Ihre Begegnung mit Flüchtlingen und deren Leidensweg. Ihr Buch ist ein eindringlicher Appell an die zuständigen Politiker in Brüssel und an die Zivilgesellschaft, die unmenschlichen Hotspots zu schließen. Wie könnte den Problemen begegnet werden?

Jean Ziegler: Die Hotspots auf den griechischen Inseln gehören umgehend geschlossen. Den Flüchtlingen dort muss man die Möglichkeit geben, von ihrem Menschenrecht auf Asyl Gebrauch zu machen. Das heißt, sie müssen auf das Festland gebracht und auf die europäischen Staaten verteilt werden.

Kultur Joker: Sie haben auch mit Vertretern von Hilfsorganisationen gesprochen (medico international, Pro Asyl u.a.) sowie mit Menschenrechtsaktivisten, engagierten Anwälten und offiziellen Vertretern. Was fordern diese?

Jean Ziegler: Die Kritik dieser Organisationen an der gegenwärtigen Politik ist einhellig und damit auch ihre Forderungen. Die EU muss ihre Politik der Abschreckung von Flüchtlingen grundsätzlich ändern, wenn sie sich nicht weiterer Menschenrechtsverletzungen schuldig machen will.

Kultur Joker: Insbesondere sind die Push-Back-Aktionen gegen Flüchtlingsboote auf offener See ein Skandal?

Jean Ziegler: Ja, hier spielen sich unbeschreibliche Szenen ab. Dank Refugee Rescue gibt es eine ganze Serie von Videos – eines empörender als das andere –, die Praktiken der Küstenwachen, vor allem der türkischen, und der FRONTEX-Schiffe zeigen. Dort kann man sehen, wie uniformierte türkische Soldaten mit Eisenstangen auf Flüchtlingsfamilien, darunter auch Kinder, einschlagen, um sie zur Umkehr zu zwingen. Eine andere Technik erweist sich als noch wirkungsvoller: Das Schiff der Küstenwache umfährt das Schlauchboot der Flüchtlinge mit hoher Geschwindigkeit in immer engeren Kreisen, wobei es ständig wachsende Wellen erzeugt. Das kleine Flüchtlingsboot beginnt so heftig zu schaukeln, dass es jeden Augenblick zu kentern droht.

Kultur Joker: Ankommende Flüchtlinge sollten auf das Festland gebracht werden, registriert und auf alle europäischen Staaten verteilt werden, schreiben Sie. Den EU-Staaten, die das universelle Menschenrecht auf Asyl nicht einhalten, sind die EU-Mittel zu kürzen?

Jean Ziegler: Die osteuropäischen Staaten haben immer wieder gesagt, dass sie keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Gleichzeitig erhalten Sie Millionen-Subventionen von der EU. Die Präsidentin der EU-Kommission sollte den Mut aufbringen, diesen Staaten klar zu machen, dass sie nur dann Teil der EU sein können, wenn sie bereit sind zu respektieren, dass diese EU die Menschenrechte nicht verletzen darf.

Kultur Joker: Die griechische Regierung hat bereits auf die stark steigenden Flüchtlingszahlen auf Lesbos und anderen Inseln reagiert und über tausend Migranten von überfüllten Flüchtlingscamps auf das griechische Festland gebracht, aber das ist nicht ausreichend. Wie ist momentan der Stand der Dinge?

Jean Ziegler: Täglich kommen neue Flüchtlinge auf den Inseln an. Die absoluten Zahlen steigen trotz der gelegentlichen Transfers massiv. Heute (Stand Mitte März) sind über 24.000 Flüchtlinge hinter Stacheldraht unter schrecklichsten humanitären Bedingungen eingepfercht.

Kultur Joker: In diesem Zusammenhang rückt nun die Türkei verstärkt in den Blickpunkt, da sie ihre Grenzen geöffnet hat und weitere Migranten nach Griechenland strömen, die höchste Zahl seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Flüchtlingspakts im März 2016, der die „illegale“ Einwanderung nach Europa einschränken sollte. Wie ungewiss ist die Zukunft des Pakts und wie ließen sich die weltpolitischen Machtkämpfe befrieden, die dabei mitspielen?

Jean Ziegler: Es gibt keine illegale Einwanderung. Wer in seinem Heimatland gefoltert, bombardiert oder verfolgt wird, hat das unveräußerliche Menschenrecht eine Grenze zu überschreiten, um in einem anderen Staat um Asyl nachzusuchen. Die hermetische Schließung der Südgrenze Europas durch die EU ist eine Liquidierung des Asylrechts und damit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Kultur Joker: Herr Ziegler, wir bedanken uns für Ihre Ausführungen und klaren Stellungnahmen.

Jean Ziegler. Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten. Aus dem Frz. von Hainer Kober. C. Bertelsmann 2020

Bildquellen

  • Jean Ziegler: Hermance Triay