Im Gespräch: Esther Dischereit, deutsch-jüdische Autorin, zum Attentat von Halle

Esther Dischereit ist die wichtigste deutsch-jüdische Autorin der zweiten Generation nach der Shoah, die sich mit deutscher „Gedächtnispolitik“ befasst. Als Tochter einer Frau, die die Nazi-Zeit in unterschiedlichen Verstecken in Deutschland überlebte und ihre älteste Tochter mit durchbringen konnte, hat Dischereit einen eigenen Blick auf die Tätergesellschaft, in der sie groß geworden ist. Im Rahmen der Wochen gegen Rassismus hat sie die Publikation „Hab keine Angst, erzähl alles! Das Attentat von Halle und die Stimme der Überlebenden“ (Herder Verlag, 2021) im Theater Freiburg vorgestellt. Das Buch ist eine Dokumentensammlung, die neben den Mitschriften der Zeug*innenaussagen vor Gericht auch transkribierte Gespräche enthält. Jenny Warnecke sprach mit Esther Dischereit.

Kultur Joker: Zum NSU-Prozess haben Sie ein dichterisches, fiktives Werk verfasst mit „Blumen für Otello. Über die Verbrechen von Jena“, warum im Halle-Prozess ein Dokumentarisches?

Dischereit: Im NSU-Prozess blieb der Aufschrei der Mehrheitsbevölkerung aus, da hatte ich das Gefühl, über die Verdichtung der unterschiedlichen Vorkommnisse vielleicht einen anderen Zugang schaffen zu können. Insbesondere die öffentliche Klage musste meiner Meinung nach geführt werden. Das war in Bezug auf die Morde von Halle und den versuchten Massenmord gegen die Synagogenbesucher*innen und weitere Menschen im Kiez-Imbiss anders. Allerdings fiel mir auf, dass im Verfahren gegen den Täter von Halle in mehreren Protokollmitschriften, die mir zugänglich waren, Auslassungen zu sehen waren. Immer da, wo die Zeugnisse zum Beispiel ein Gebet im Hebräischen beinhaltet hatten oder ein gesungenes Lied in jiddischer Sprache, da fand sich in Niederschriften nichts, ein Loch.
Teils spiegelten Protokolle eher die Kommentare und Gewichtungen der Protokollierenden wider statt der genauen Aussagen. Eine Prozessbegleitung, die sich selbst als politisch begreift, die an der Seite der Betroffenen stehen möchte, hat eben das, was diesen besonders wichtig war, mit Auslassungen dokumentiert. Durch einen durch die Nebenklage eingerichteten Blog zur Veröffentlichung der Statements der Betroffenen konnten diese ungekürzt zur Kenntnis genommen werden, das war sehr nützlich, für die Aussagen vor Gericht mussten Mitschriften angefertigt werden. Das jiddische Lied, das Ezra Waxman in Referenz auf seine Großmutter, die überlebt hatte, sang, es fehlte überall.

Kultur Joker: Was ist bedeutsam an Zeugenschaft vor Gericht?

Dischereit: Die Führung eines Prozesses dient nicht nur der Findung von Wahrheit, der Verurteilung des Täters, sondern auch der Heilung. Und der Herstellung von Gerechtigkeit. Das ist ein Vorgang, der den Opfern und Überlebenden von Hanau verwehrt ist. Weil der Täter sich dort erschossen hat, kam es zu keinem Prozess, der den Zeug*innen Raum gegeben hätte.

Kultur Joker: Als eines der bewegendsten Zeugnisse empfand ich die Aussage von Rabbinerin Rebecca Blady und ihrem Mann Rabbiner Jeremy Borovitz.

Dischereit: Beide waren mit einer Gruppe aus Berlin mit ihrem kleinen Kind zu Jom Kippur in die Synagoge nach Halle gefahren, um die kleine Gemeinde an diesem höchsten Feiertag zu unterstützen. An diesem Tag dauern die Gebete den ganzen Tag lang an, die Anwesenden haben kein Geld und keine Telefone bei sich. Eine Babysitterin war mit dem Kind rausgegangen. Die Problematik bei dem Kind von Rebecca Blady und Jeremy Borovitz war ja, dass sie nicht wussten, wann die Babysitterin mit dem Kind zurückkommen wollte und ob die beiden vielleicht dem Täter in die Arme gelaufen wären. Das hat die Eltern außerordentlich besorgt gemacht, deswegen war es auch so ein dramatischer Vorgang, dass die Polizei die zurückkehrende Babysitterin mit Kind nicht passieren ließ. In der Zeugenaussage hat Rebecca Blady von ihrer Großmutter erzählt, die an der Rampe von Auschwitz von deren Mutter getrennt wurde. Dieses Trauma war in dem Moment präsent, als die Polizei ihr Baby über Stunden nicht zu ihr lassen wollte.

Kultur Joker: Die Zeugin Sabrina Slipchenko sagt: „Weil wir nicht Juden in erster Linie sind, sondern Menschen, die auch Juden sind“.

Dischereit: Sie sagt auch – ich zitiere sinngemäß – : „Ich bin Migrantin, ich bin Frau und queer, ich bin alles, was dieser Täter verabscheut, er hätte ein lohnendes Ziel gehabt. Dazu arm, mein Vater ist Bauarbeiter. Außerdem haben wir gar keine besondere Jüdischkeit zu Hause gehabt. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir irgendwas gefeiert hätten, ich wusste also bloß, dass wir es sind, jedenfalls meine Mutter.“ Das sind wichtige Darstellungen und Klärungen über die Vielfalt jüdischen Seins.

Kultur Joker: Gibt es bei Ihnen das Gefühl, dass Zeug*innen das Geschehen in anderer Weise festhalten als dies durch Fragestellungen geschieht, die im unmittelbaren Sinn als Ermittlungen anzusehen sind?

Dischereit: Ismet Tekin ist zusammen mit seinem Bruder der Inhaber des Döner-Imbisses, heute Tekiez, in dem Kevin S. erschossen wurde. Herr Tekin ist davon überzeugt, dass es der Wirkmächtigkeit von Bildung bedarf. Und er versteht diese Bildung als einen Auftrag, der sich auf den Menschen als ganzes bezieht. Auf das, was Menschsein sein sollte. Auf der Open-Books-Veranstaltung in Frankfurt am Main hat er gesagt: „Durch diesen Anschlag habe ich viel besser Deutsch gelernt. Ich rede ja jetzt überall. Und es ist ganz wichtig, dass die Lehrer sich um diese Fragen kümmern. Nie hätte ich gedacht, dass mir jemand nach dem Leben trachtet, weil wir Muslime sind, oder meinen jüdischen Mitbürger*innen etwas tun könnte.“

Kultur Joker: Hat sich nach dem Prozess für die Betroffenen etwas verändert?

Dischereit: Ja, ein Beispiel: Rabbiner Jeremy Borovitz beschloss nach dem Anschlag, immer seine Kippa zu tragen. Seitdem erlebt er Übergriffe, von denen er vorher nicht geglaubt hätte, dass er sie erleben würde. Er berichtet, dass er Angriffen ausgesetzt ist und dass ihn mehrfach türkischstämmige Leute verteidigt haben. Die Selbstverständlichkeit des Eingreifens, wenn dem anderen etwas geschieht, das reklamiert er für sich, für sich als dem anderen, das ist wichtig.

Kultur Joker: In Ihrem Buch kommt mit Antonia von der Behrens eine Nebenklageanwältin zu Wort, die der Einzeltäterthese widerspricht. Ist das auch ein Spiegel des gesamten Prozesses?

Dischereit: Im Buch ist der Fokus stärker, als er vor Gericht war. Es war sogar so, dass das Bundes­kriminalamt in geradezu erschreckender Weise Bezüge zu Christchurch, Orlando, Pittsburgh, El Paso geleugnet hat, obwohl der Täter in seinem Memorandum davon spricht. Ein BKA-Beamter hat mittels einer Wortanalyse festgestellt, dass es eigentlich keine Verbindung geben würde. Das war wirklich absurd. Die Nebenklage hat die Ladung der Gutachter*innen durchgesetzt, die das im Rahmen ihres zivilgesellschaftlichen Engagements schon seit vielen Jahren bearbeiten. Diese Spuren und Zusammenhänge sind unstreitig. Auch der Frage, woher der Täter das Geld hatte, sich einen 3D Drucker zu kaufen, mit dem er dann Waffenpartikel herstellte, wurde nicht nachgegangen. Bis hin zum unterlassenen Abgleich von Fingerabdrücken aus dem unmittelbaren familiären Umfeld. Ziel ist ein schnelles Verfahrensende durch begrenzte Täterschaft.

Kultur Joker: Wie kann man der Einzeltäterthese begegnen?

Dischereit: Indem der Täter einen Livestream geschaltet hat, hat er sich an eine Community gewandt, die diesen Mordtaten applaudierend gegenübersteht. Dort sollte ein Ehrenplatz errungen werden. Also gibt es ein Publikum. Wer ist dieses Publikum? Auf diese Fragen muss die Aktivität des BKA gerichtet werden, auch über die Grenzen von Deutschland hinweg. Diese Dimension von weltweit agierendem Rechtsterrorismus muss gesehen werden.

Kultur Joker: Was bewirkt öffentliche Zeugenschaft? „Fritz Bauer wäre zufrieden gewesen“, sagten Sie in Freiburg auf dem Podium.

Dischereit: Das Zitat stammt aus dem Plädoyer des Nebenklagevertreters Onur Özata. Dieser Prozess schlug eine Seite auf, die so bisher im Blick der politischen Akteur*innen nicht oder zu wenig gesehen wurde. Zeugenschaft geht weit über die Ermittlungstatbestände hinaus. Es bedeutet Raum nehmen und selbst sprechen und nicht unterbrochen werden. Das Zuhören spielt eine Rolle. Wir brauchen die Betroffenen als Expert*innen und Zeug*innen nicht nur für gesonderte Veranstaltungen, sondern vor Gericht, wo legitimer Weise den Bürger*innen der Platz gehört, den sie beanspruchen können. Wie das ausgefüllt werden kann, das hat der Prozess zeigen können.
In diesem Sinne sollten auch andere Menschen, die zu Schaden gekommen sind, das Wort ergreifen können. Da müssen wir im Zusammenhang rechtsterroristischer Straftaten nicht nur an Menschen denken, die aus antisemitischen und antimuslimischen oder rassistischen Gründen betroffen sind. Menschen werden verfolgt, weil sie Arme sind oder ohne Obdach. Und Frauen – das ist ja noch überhaupt nicht erfasst, inwieweit der Rechtsterrorismus ausschlaggebend ist für diese hohe Gewalt gegenüber Frauen. Solche Prozesse werden in diese Richtung ja noch gar nicht geführt. Sie werden zumeist als Beziehungstaten bezeichnet und damit ist der Fall geschlossen.

Kultur Joker: War es in Halle ein Glück, dass es eine „geschichtssensible Richterin“ gegeben hatte?

Dischereit: Die Richterin war sich sicher darüber im Klaren, dass das Verfahren besonders in anbetracht einer internationalen Aufmerksamkeit von hoher Brisanz sein würde. Im Vorfeld wurde durch die Nebenklage organisiert, dass die Anwält*innen sich möglichst kannten, damit Wissen geteilt werden konnte und die Nebenklagevertreter*innen mit verschiedenen Schwerpunkten agieren konnten. Etwa ein Drittel der Anwält*innen war auf diese Weise miteinander vernetzt. Sie waren in politischen Verfahren erfahren und haben ihre Mandant*innen ermutigt, Statements zu verfassen und die Bühne des Gerichts als eine Möglichkeit für sie zu betreten.

Kultur Joker: Finden alle Nebenklageanwält*innen Zeugenschaft wichtig?

Dischereit: Es gab im NSU-Verfahren Nebenklagevertreter*innen, die diese Zeugenschaft nicht wichtig fanden. Fast sogar peinlich. Ich erinnere mich noch genau daran, wie sich Herr Yozgat (Vater von Halit Yozgat, der während der mutmaßlichen Anwesenheit eines Verfassungsschutzbeamten in Kassel ermordet wurde) im Prozess auf den Boden legte, um zu zeigen, wie er seinen Sohn aufgefunden hatte. Der Schmerz um den Sohn war im Körper des Vaters verbildlicht. Das fand das Gericht unziemlich. Es hatte eine hohe Aufmerksamkeit auf der Enttarnung von Quellen gelegen, das war auch sicher wichtig. Aber es hatte doch gegenüber Betroffenen gelegentlich eine Mentalität geherrscht, dass sie ihre Gefühle besser beherrschen oder außerhalb des Gerichtssaals haben sollten.

Kultur Joker: Als Sie im Jahr 2020 nach Magdeburg zur Prozesseröffnung fuhren, wussten Sie da bereits, dass Sie ein Buch über das Geschehen machen wollten?

Dischereit: Nein. Gerade arbeitete ich an einem Ausstellungsprojekt. Und ich hatte weder die Absicht noch die Zeit, das zu machen. Aber es erschien mir unmöglich, die Reden, die Zeugnisse derer, die gesprochen und geschrieben haben, und die ja eben auch sprechen wollten, nicht zusammenzutragen und zu bewahren. Das sollte unbedingt geschehen.

Kultur Joker: Um ein solches Dokument herstellen zu können, müssen Sie sicher das Vertrauen von Menschen gewinnen, die in ganz unterschiedlicher Weise nicht nur betroffen sind, sondern auch möglicherweise aus verschiedenen politischen Richtungen kommen?

Dischereit: Ich komme aus der Gewerkschaftsbewegung. Wir hätten keinen einzigen Streik gewinnen können, wenn wir nicht ein punktuelles Bündnis hergestellt hätten. Die sich als den Betroffenen gegenüber solidarisch verortenden Gruppen teilen diese Sichtweise häufig nicht. Sie wollen auch unter den Überlebenden manchmal die „Richtigen“ haben. Ich habe in einem Text, den ich zu diesem Geschehen schrieb, betont, dass die Brüder Tekin in ihrem Döner-Laden zum Gedenken an Kevin S., der in ihrem Laden ermordet wurde, ein Fußballfeld an der Wand appliziert hatten. Am Gedenktag 2020 kamen die eher der rechten Szene zuzurechnenden Mitglieder des Fanclubs des Halleschen Fußballvereins dorthin und haben offenbar honoriert, wie einem der Ihren dort gedacht wurde.

Kultur Joker: Was muss nach einem solchen Attentat geschehen und wurden die Menschen versorgt, so wie es nötig ist?

Dischereit: Ich spare jetzt die rüde und fast feindselig zu nennende Behandlung durch die Polizei aus. Sie war leider zu dokumentieren.
Im weiteren muss es darum gehen, wie psychosoziale Hilfe in Anspruch genommen werden kann. Es gibt zu wenig Therapeut*innen. Es ist geradezu ausgeschlossen, dass Menschen schnelle Hilfe niedrigschwellig und bezahlt bekommen können. Die Betreuung der Polizist*innen hingegen ist im Rahmen ihrer Institution gegeben. Wo aber bleibt der Schutz und die Fürsorge für die Bürger*innen? Außerdem geht es um die Etablierung von Opferfonds, die diesen Namen verdienen, die unbürokratisch auch die finanziell und wirtschaftlich entstehenden Folgekosten solcher Taten lindern können.

Kultur Joker: Wie hat sich die zivilgesellschaftliche Unterstützung ausgewirkt?

Dischereit: Das ist in Halle sehr imponierend gewesen und ist es noch. Zahlreiche Gruppen waren präsent: von Nachbarschafts-Kiez bis Kritische Jurist*innen, AntiFa und AntiRa, der Migrationsrat Berlin-Brandenburg oder der Jüdische Studierendenbund. Radio Corax hat eine wichtige Rolle gespielt. Was gefehlt hat, wie mir schien, waren die kirchlichen und Akteur*innen aus Gewerkschaften und politischen Parteien mit Ausnahme Die Linke. Auch sämtliche Prozesstage wurden durch einen Informationsstand und Redemöglichkeiten außerhalb des Gerichtssaals begleitet.

Kultur Joker: Was hat das mit einer politischen Kultur zu tun?

Dischereit: Im Zusammenhang der 1968er Bewegung und der politischen Organisiertheit ist alles, was christliche Kirchen gemacht haben, und was als Almosen betrachtet wurde, verachtet worden; als etwas, das die Welt nicht verändert, das die Struktur nicht im Prinzip angreift, für das, was geschieht, als Arme, Reiche, Ausgegrenzte und Dominierende. Das stimmt auch alles. Das müssen wir aber trotzdem machen und wollen. Weil es uns auch etwas zeigt und uns etwas lehrt. Das Zuhören ist – altbacken gesagt – eine zivilgesellschaftliche Tugend, die wir üben sollten. Das Hören und Zuhören hat im dichotomen Denken des Klassenkampfs keinen Platz, das ist nicht vorgesehen. Es ist dagegen sehr hilfreich, die Zeug*innen einzuladen, nicht nur für sie, sondern auch für uns. Sie zeigen uns, wie wir uns von der Dämonisierung des Bösen befreien können. Es ist trostreich zu sehen, dass der Täter sie eben nicht zerstören konnte; er konnte auch nicht erreichen, dass sie ihr „Jüdisch- oder Muslimischsein“ aufgeben. Im Gegenteil: sie blieben jüdisch, und ihre Gebundenheit gibt ihnen Stärke.

Kultur Joker: Frau Dischereit, vielen Dank für das Gespräch.

Bildquellen

  • Esther Dischereit: Foto: Biryar Kouti