Im Gespräch: Alexander Kluge, Autor, Jurist und Filmemacher

„Ohne Musik wäre alles Leben ein Irrtum.“ Alexander Kluge (*1932) − literarischer Autor, Jurist, Filmemacher und Vertreter des Neuen Deutschen Films − wählt dieses Zitat von Friedrich Nietzsche als Motto für ein mehrteiliges Ausstellungsprojekt, das sich mit der Macht der Musik befasst; dieses hat nun unter dem Titel „Die Oper – Tempel der Ernsthaftigkeit“ in der kunsthalle weishaupt und im Museum Ulm begonnen. Kluge verdeutlicht seine Thematik, indem er mit Filmarbeiten, Textpassagen und Bildwerken multiple Eindrücke inszeniert, die aufscheinen lassen, inwiefern sich die Oper mit ihren Psycho-Dramen und Übertreibungen, mit ihrer Poesie und ihren maßlosen Geschichten als „Kraftwerk der Gefühle“ – zwischen Sehnsucht und Abgrund – begreifen lässt; so entsteht mittels multimedialer Rauminstallationen ein sinnlich zugänglicher Erkenntnisversuch. An die Schau in Ulm werden sich verwandte Ausstellungen in Stuttgart und Halberstadt anschließen. Unsere Mitarbeiterin Cornelia Frenkel hat Alexander Kluge zu diesem Projekt befragt.

Kultur Joker: Mit Ihrer Ausstellung wollen Sie die Kunstform Oper sichtbar machen, auch indem Sie diese mit anderen Künsten konfrontieren; sie gehen erklärtermaßen nach dem Prinzip der „Wunderkammer“ vor, erschließen durch Bild- und Toncollagen Erfahrungen, die Gefühlsäußerungen in Opern betreffen. An welche Komponisten denken Sie zuerst?

Alexander Kluge: Das hängt von meiner Arbeit ab und wechselt mit dieser Arbeit. Im Moment denke ich gerade an Wolfgang Riehm (von heute) und an Claudio Monteverdi (von 1607). Sie haben miteinander zu tun. Und genau diese Maulwurfstunnel unter den etwa 80.000 Opern die es gibt, faszinieren mich. Die Aufzählung würde sehr lang. Mein Vater, ein Theaterarzt in Halberstadt, war Verdifreund. Man kann sich an manchen Meistern nicht satthören. Es gibt auch sehr schöne Musik von selten gespielten Komponisten. In der Teilausstellung im Württembergischen Kunstverein, die am 16. März 2020 beginnen wird, würden Sie das Bühnenbild zu „Berenike, Königin von Armenien“ aufgebaut sehen. Der Komponist Jommelli hat darin eine überwältigend schöne Musik versteckt. Manche Komponisten sind Zauberer.

Kultur Joker: Sie fordern den Verstand des Betrachters heraus, indem Sie zeigen, wie menschliches Verhalten durch Affekte und Leidenschaften produktiv oder destruktiv gesteuert wird. Sie nutzen Dokumentarmaterial, Spielfilmausschnitte, Zitate, Kommentare und Interviews. Sie setzen auf den Reiz der Assoziation, forcierte Didaktik wollen Sie vermeiden?

Alexander Kluge: Es gibt ja die Dramaturgie der Schulpause und die der Schulstunde. Man kann auf vielerlei Art lernen. Im Musiktheater aber gilt nicht das Lehramt, sondern das Spiel. Die Phantasie trägt nicht gerne Sattel.

Kultur Joker: Sie verbinden Motive aus Opernwerken mit Wissenschaft, Film, Literatur und Bildender Kunst; des Weiteren ist der Austausch mit Künstlerkolleg*innen essenziell. Nach welchen Kriterien wurden die Positionen, die Sie in der Ausstellung präsentieren, etwa Sarah Morris (Unter-Wasser-Opern-Filme) oder Thomas Demand (Heldenorgel) ausgewählt und Musikpassagen gegenübergestellt?

Alexander Kluge: Zu den befreundeten Künstlern, mit denen ich kooperiere, gehören nicht nur die beiden Namen, die Sie nennen, sondern auch die Bühnenbildnerin Anna Viebrock, die Künstlerin Kerstin Brätsch in New York. Und Katharina Grosse, die für diese Ausstellung vier große Bühnen entworfen hat. Das sind eigenständige Kunstwerke. Auf diese Bühnen projiziere ich Filme. Daraus kann man Momentaufnahmen abfotografieren. Solche Bilder, entstanden aus Kooperation – immer in mehreren Schritten unter Wahrung der Verschiedenheit der Metiers, wir nennen so etwas „Transitionen“ – entsteht dann der Druck auf Seidentuch, genannt „Sphinx Opera“, der in der Ulmer Ausstellung auf zwölf Meter Breite das Thema „Oper und Bombenkrieg“ andeutet. Ich bin überzeugt, dass aus solchen Kooperationen etwas Komplexes und Neues entsteht. Ich bin bei den Opern immer wieder erstaunt, wieviel Kooperation unterirdisch die Komponisten verbindet. In der Ausstellung können Sie sehen, wie Richard Wagner mit seinem Erzfeind Giacomo Meyerbeer rivalisiert: wer schreibt den längsten und schönsten Liebestod? Und noch aus bösestem Hass entsteht so praktisch eine künstlerisch-brillante Kooperation. So entstand der Liebestod der Isolde in „Tristan und Isolde“ in Nachahmung von Meyerbeers Erfolgsoper „Die Afrikanerin“, die einen Liebestod von 23 Minuten hatte. Wagner hat den Pariser Erfolg nachgeahmt und dadurch „kooperiert“. Es tritt heute etwas Wichtiges hinzu. Die Algorithmenwelt von Silicon Valley ist hochvernetzt. Die Künste verhalten sich dazu als Gegenalgorithmus. Auch sie bilden ein Netz, aber ein ganz anderes. Wenn sie auf Augenhöhe bleiben wollen, können sie das nicht dadurch tun, dass sie irgendetwas von den Vereinfachungsmethoden der 4.0-Welt nachahmen. Sie können nur dadurch antworten, dass sich die Künste zusammenschließen und ihre Komplexität bewahren. Beides sind Netze: die Götterwelt des Digitalen aus Null und Eins, äußerste erfolgreich, aber in ihren Wurzeln immer auf Einfachheit bedacht und das Gegennetz, das Gewebe, die Textur der Künste. Vor allem die Künste, die sich in der Zeitperspektive bewegen wie Musik und Film haben ihre Wurzeln im menschlichen Gefühl und im Ohr, also in der Lebenswelt. Dieses lebendige Wurzelwerk kann man nicht abschneiden, nicht vereinfachen, nicht auf die Logik von Null und Eins bringen. Man soll das Komplexe, das Netz der Spinne – bei Ovid heißt sie ARACHNE – nicht zerreißen. Sein Wert liegt darin, dass es in uns Menschen fest verankert ist. Ich kann Ihnen nicht sagen, wozu gute Musik nützlich ist. Aber ich behaupte, dass sie mich lebenslang begleitet und sich nicht ausgrenzen lässt, wie es im Märchen von Dornröschen mit der dreizehnten Fee geschieht, wenn das goldene Geschirr der Digitalität nur für zwölf weise Frauen im Lande reicht. Das ist der tiefe Grund dafür, dass wir im 21. Jahrhundert erneut die „Wunderkammern“ brauchen, in denen sich im 17. Jahrhundert die Künstler, die Wissenschaftler, die Philologen, die Astronomen und die Musiker – auch die Alchemisten – zusammengefunden haben. Man war damals, weil die Zeit so rasant fortschritt, auf Zusammenarbeit des Könnens angewiesen. Das sind wir heute erst recht.
Mit Thomas Demand habe ich übrigens schon zusammengearbeitet in der Prada-Ausstellung in Venedig, „The boat is leaking. The captain lied.“. Er ist eigentlich der wichtigste Künstler für mich, was Zusammenarbeit unter strikter Wahrnehmung der verschiedenen Metiers betrifft. Und zu Sarah Morris: in der Ulmer Ausstellung finden Sie unseren gemeinsamen Film „Mimosa Tank“. Eine Hommage an den Meisterregisseur Fritz Lang, den wir beide mögen und bei dem ich gelernt habe. Es geht dabei auch um Fritz Langs Film „Harakiri“, in dem er den Stoff von Puccinis Oper „Madame Butterfly“ behandelt. Auf dem Wege der Kooperation mit der New Yorker Künstlerin geht es also wieder direkt um Oper.

Kultur Joker: Im Kontrast zur aufwühlenden Operngefühlswelt stehen die klare Architektur der kunsthalle weishaupt sowie Bilder, die von dieser zur Ausstellung beigesteuert wurden, etwa von Josef Albers und Piet Mondrian – beide fordern zu ruhiger Wahrnehmung und Selbstbeobachtung auf. Fühlen Sie sich von diesen Werken der Bildenden Kunst angesprochen, die offensichtlich von aufgeregt, subjektiver Emotionalität Abstand nehmen?

Alexander Kluge: Sie sprechen von der Station II in der Ulmer Ausstellung. Der Raum hat die Überschrift: „Wenn die Oper sachlich wäre / Oper ohne Theaterton. Das ist der Ansatz, wie das Bauhaus auf das Musiktheater blicken würde. Die Ausstellung findet in Ulm statt. Dort war der Sitz der Hochschule für Gestaltung, der Nachfolgerin des Bauhauses. Und wir Autorenfilmer haben dort am Institut für Filmgestaltung Ulm jahrzehntelang gearbeitet. Opern sind im Allgemeinen wenig sachlich. Unsere Arbeit an der Hochschule für Gestaltung war durch Kollegen beeinflusst, denen die Sachlichkeit ein Idol war. Es ist natürlich, dass ich der Frage nachgehe: warum ist die Welt der Operngefühle so verwirrend? Was will die Sphinx namens Oper uns sagen? Könnten sich nicht auch Mathematik, Astronomie, Urteilsfähigkeit und Glückssuche mit Musik verbinden? Müssen immer im fünften Akt die Soprane sterben? Mein ganzes Gefühl wendet sich gegen dieses Schema. Das ändert nichts daran, dass die Musik davon mich fasziniert. Ein dickes Buch von mir heißt „Chronik der Gefühle“. Ich glaube, dass an der Wurzel der Gefühle sehr viel Vernunft steckt. Allerdings von allerhand Lava – mediengemachter Sentimentalität – überdeckt.

Kultur Joker: Der Ausstellungsteil im Museum Ulm rückt immer wieder das Theater Ulm in den Mittelpunkt des Geschehens. Was hat Sie dazu motiviert?

Alexander Kluge: Das von mir geleitete Kulturmagazin hat mehr als 20 Jahre mit dem Theater Ulm zusammengearbeitet. Es ist erstaunlich zu beobachten, welche starken Begabungen an einem solchen Dreisparten-Theater arbeiten, um dann später ihre Weltkarriere anzutreten, z. B. Philippe Jordan und Angela Denoke.

Kultur Joker: Gefühle seien nicht mit Sentimentalität zu verwechseln, diese seien viel älter und stärker als jede Kunst, haben Sie einmal gesagt. Ist dies ein Grundgedanke, der bereits ihren Film „Die Macht der Gefühle“ von 1983 bewegt?

Alexander Kluge: Das, was wir Gefühle nennen, besteht aus Unterscheidungsvermögen. Wir sind Warmblüter. Die Welt in der Eiszeit war kalt. Der Unterschied zwischen heiß und kalt ist uns eingewurzelt und sicher älter als jede Kunst. Es bleibt aber dabei, auch in der Moderne. Die eigentliche Kunst besteht darin, Unterschiede zu machen. Und das können die Gefühle etwas subtiler als der Verstand. Ich glaube übrigens, dass auch der nur dann gut ist, wenn er seine Wurzeln im Gefühl verankert, unserer Subjektivität.

Kultur Joker: Repräsentativ und prestigeträchtig steht das Opernhaus im Zentrum vieler Städte, es gilt als Zeichen für bürgerliches Selbstbewusstsein und Ort, an dem unterdrückte Emotionen ihren Ausdruck finden. Wie hat sich die Rolle der Oper historisch verändert und wer ersetzt heute das „Bürgertum“?

Alexander Kluge: Wir sind die Bewohner unserer Lebensläufe. Die sind wie eine Landschaft, wie ein Acker oder wie eine Stadt. Das „Bürgerliche“ ist eine bestimmte Art, sich einzurichten in der Welt. Wenn solches „Bürgertum“ sich historisch verändert oder in der Mehrheitsgesellschaft fast verschwindet, ist es im Innern noch immer da. Das sind die Äcker der Seele. Sie brauchen Erzählung und Rhythmus, das heißt eine wie immer geartete Musik. In jedem Menschen gibt es außerdem den „Bauern in uns“. Wenn wir längst nicht mehr als Bauern arbeiten, sind diese Stimmen der Vorfahren noch immer in uns tätig. Und ebenso gibt es den „Städter in uns“, wenn wir auf die globale Weltgesellschaft zumarschieren. „Tempel der Ernsthaftigkeit“ ist der Titel der Ausstellung. Es gibt etwas Ernsthaftes in uns, etwas, das unverkäuflich bleibt, ganz gleich, was in der Gesellschaft geschieht. Das äußert sich auf vielfache Weise. Eine davon ist die Oper.

Kultur Joker: Wir bedanken uns für Ihre Ausführungen.

Museum Ulm + kunsthalle weishaupt. Di-So 11-17 Uhr, Do 11-20 Uhr. museumulm.de, kunsthalle-weishaupt.de. Bis 19. April 2020.

Ab 16. März mit neuen Themen im Württembergischen Kunstverein und, ebenfalls mit erweiterter Thematik, als „Halberstädter Brennpunkte“ 04. – 09. April 2020 im Gleimhaus Halberstadt + Nordharzer Städtebundtheater + Moses Mendelssohn Akademie.

Weiterführende Literatur:
Alexander Kluge. Die Macht der Musik. Die Oper: Tempel der Ernsthaftigkeit. Museum Ulm / kunsthalle weishaupt. Katalog zur Ausstellung 2019
Alexander Kluge. Chronik der Gefühle. Bd. I. Basisgeschichten. Bd. II. Lebensläufe. Suhrkamp 2004
Alexander Kluge / Ferdinand von Schirach. Die Herzlichkeit der Vernunft. Luchterhand 2017

Bildquellen

  • Alexander Kluge, Schriftsteller, Jurist, Filmemacher,: Alexander Kluge, Schriftsteller, Jurist, Filmemacher, Foto:Markus Kirchgessner