Einsamkeit im Cadillac: André de Ridder dirigiert Georg Friedrich Händels Oper „Alcina“ am Freiburger Theater
Das Donnergrollen verheißt nichts Gutes. Nebel zieht über die Bühne. Und ein amerikanischer Straßenkreuzer steckt im Boden. Noch bevor im Freiburger Theater ein Ton erklingt, setzt das Bühnenbild von Katarzyna Borkowska einen düsteren Akzent. Die Insel der Zauberin Alcina liegt im Halbdunkel. In diesem wenig anheimelnden Ambiente hält sie ihre Liebhaber gefangen. Wer Alcina langweilt, wird versteinert oder zu einem Tier verwandelt. Zwei große schwarze Löwen, die als Sitzpolster dienen, erzählen davon.
Dann beginnt das Philharmonische Orchester Freiburg mit der Ouvertüre von Georg Friedrich Händels 1735 uraufgeführter Erfolgsoper. Die Streicher verwenden Barockbögen, die Blechbläser greifen zu Naturinstrumenten. Generalmusikdirektor André de Ridder, der ab 2027 als Chefdirigent an die National Opera London wechseln wird, entwickelt in dieser deutlich gekürzten „Alcina“ mit dem städtischen Orchester einen transparenten, beweglichen Klang. Der Fokus der Inszenierung von Pia Partum nach dem gemeinsam mit Katarzyna Borkowska erarbeiteten künstlerischen Konzept liegt ganz auf Alcina. Deshalb ist Maeve Höglund schon von Beginn an auf der Bühne mit einem Cocktail in der Hand. Alle Figuren tragen schwarz (Kostüme: Katarzyna Lewinska) und bewegen sich in Zeitlupe. Neben den Gesangssolisten gibt es noch drei männliche, als „Lovers“ aufgeführte Statisten, die aber leider mit ihrer Dauerpräsenz vom eigentlichen Geschehen ablenken. Ständig cremt sich jemand ein, streichelt sich und andere, schreitet bedeutungsvoll umher und futtert auch mal minutenlang mit Stäbchen aus einer Asiabox. Das wirkt auf Dauer eher einschläfernd als sinnlich. Wie überhaupt der Abend vor der Pause szenisch nicht richtig in die Gänge kommt.
Musikalisch passiert Spannenderes – und das nicht nur in den freien Verzierungen bei der Wiederholung der Da-Capo-Arien. Yewon Kim beginnt Bradamantes Arie „È gelosia“ (Die Eifersucht) verhalten, um sich nach und nach, entsprechend den Emotionen dieser von Ruggiero verlassenen Verlobten, dynamisch zu steigern. Lila Chrisp gibt mit ihrem wendigen, schlanken Mezzosopran diesen von Alcina verzauberten Ruggiero als aalglatten Opportunisten, der erst im Laufe des Abends echte Emotionen zeigt. Alcinas Schwester Morgana im 50er-Jahre-Outfit ist in der höhensicheren, strahlenden Interpretation von Cassandra Wright eine lebenshungrige junge Frau, die für ein neues Abenteuer auch mal ihren Geliebten Oronte (hell timbriert: Lulama Taifasi) sitzen lässt. Und sie empfindet tiefe Emotionen, wie Wright in der von Konzertmeisterin Clara Saitkoulov veredelten Arie „Ama, sospira“ (Er, der verliebt ist) berührend zeigt. Sara De Franco glänzt als Oberto, Yunus Schahinger ist ein wuchtiger Melisso mit Intonationstrübungen.
Mit Maeve Höglund hat Freiburg eine erstklassige Alcina, die wie in der Arie „Ah, mio cor!“ (Ach, mein Herz) eine große Bandbreite an Gefühlen zeigen kann. Zum ersten Mal ist diese Zauberin wirklich verliebt. Ihre Freude darüber wandelt sich in tiefe Trauer, als sich Ruggiero, vom Zauber erlöst, von ihr abwendet. Und sie ihre Macht verliert. Nach der Pause stehen ein Cadillac und ein Chevrolet auf der Bühne. Wie von Alcina ist bei diesen verrosteten Karosserien der Glanz abgefallen. Der Traum der Freiheit – vorbei! Das Bühnenbild entwickelt nun mehr Spannung, die Handlung wird auf die Protagonisten fokussiert. Eine zugeschlagene Tür, Videos von einsamen Autofahrten durch die Wüste (Wojciech Puś) – die Bilder erhalten Bedeutung. Auch André de Ridder schafft mit dem Philharmonischen Orchester Freiburg jetzt mehr dramatischen Zug. Und setzt ausgewählte Ruhepunkte wie mit Morganas vom Solocello (Denis Zhdanov) fein umspielten Arie „Credete al mio dolore“ (Sehet hin auf meine Schmerzen). Alcinas Machtverlust wandelt sich in Höglunds existentieller Interpretation zu einem berührenden Gewinn an Emotionen. Die Zauberin wird durch ihren Schmerz menschlich. Und wenn Höglund in ihrer Abschiedsarie „Mi restano le lagrime“ (Nur bitt’re Tränen) singt und der Nebel sie einhüllt, dann bleibt die Zeit stehen. Am Ende lassen die auf das Publikum gerichteten Strahler die Protagonisten im Gegenlicht zu Silhouetten werden. Nur Alcina im Cadillac ist noch zu sehen. Ihre Einsamkeit kann man fühlen.
Weitere Vorstellungen: 5./14./19.6., 5./13./18.7. Tickets: theater.freiburg.de
Bildquellen
- Lila Chrisp und Maeve Höglund: Foto: Laura Nickel