Vorbildliche Aufarbeitung der Geschichte Waldkirchs während der nationalsozialistischen Herrschaft

Doppelt schwer wiegt das als fünfter Band der Reihe „Waldkircher Stadtgeschichte“ unter dem Titel „Hier war doch nichts“ erschienene Buch über die Ereignisse und Entwicklungen in der Elztalstadt im Nationalsozialismus. Einmal bringt das im Glanzdruck produzierte, sorgsam editierte Werk stolze 1,6 Kilogramm auf die Waage und inhaltlich haben insgesamt 27 Autoren auf rund 530 Seiten hellstes Licht auf die bislang weitgehend im Dunkel gebliebene Lokalgeschichte geworfen. Als Herausgeber fungierte der renommierte und seit langem in Waldkirch lebende Historiker und Friedensforscher Wolfram Wette.
Bis heute fällt es vor allem kleineren Städten und Gemeinden schwer, sich ihrer Vergangenheit zwischen 1933 bis 1945 offensiv zu stellen. Wenn überhaupt, erhalten in der Regel externe Historiker den Auftrag, in einem einmaligen Kraftakt die Aktenlage zusammenzustellen und im Ergebnis verstaubt die Ausarbeitung oftmals nach einer Feierstunde im jeweiligen Bürgersaal in den Regalreihen der örtlichen Bibliothek. Daran gemessen ist die Entstehungsgeschichte des Waldkircher Buches als ein Gegenmodell höchst bemerkenswert. Auch in Waldkirch überwog in der Bevölkerung der Wunsch, am besten einen Schlussstrich unter die Nazizeit zu ziehen. Die Dokumentenlage im Stadtarchiv war ohnehin dürftig, weil nachweislich in den Nachkriegsjahren zwei Verwaltungslehrlinge dazu verdonnert worden waren, belastendes Material systematisch zu vernichten. Erst 1989 beschloss der Gemeinderat mit knapper Mehrheit, die stattfindenden Kulturtage unter das Thema „Waldkirch 1939-davor und danach“ zu stellen. Gleichzeitig schlug das Bekanntwerden der Nachricht, der Waldkircher Bürger Karl Jäger, der sich dort schon vor Hitlers Machtübernahme für die NSDAP engagiert hatte und später in der SS eine steile Karriereleiter erklomm, als SS-Standartenführer in Litauen für die Ermordung von 138000 Juden verantwortlich war, wie eine Bombe ein. Jäger genoss im damaligen Waldkirch als kulturbeflissener Prokurist einer Orchestrionfabrik hohes Ansehen, der in kurzer Zeit einen bis zu 200 Mann starken SS-Sturm aus den „besten Familien Waldkirchs“ um sich scharen konnte, deren Nachkommen kein sonderliches Interesse an einer aufsehenerregenden öffentlichen Aufarbeitung hatten. Der Deckel des Schweigens war jedoch gelüftet und immer mehr Menschen forderten kritische Aufklärung. Einen entscheidenden Schub brachte 2011 das Erscheinen von Wolfram Wettes wissenschaftlicher Biographie über den Massenmörder Karl Jäger. Aus der Bürgerschaft entstand die Ideenwerkstatt „Waldkirch in der NS-Zeit“ und organisierte aktiv eine schonungslose Erinnerungskultur, insbesondere an die Verbrechen in Litauen. Verbindungen zu überlebenden Zeitzeugen des Holocausts in Litauen wurden geknüpft und nach Waldkirch eingeladen und 2017 konnte mit Unterstützung aus der Bevölkerung und einer Gemeinderatsmehrheit ein unübersehbares Mahnmal bei der Barockkirche errichtet werden. Kurz zuvor hatte der Waldkircher Filmemacher Jürgen Dettling ein umfangreiches Mehrgenerationen-Filmprojekt mit dem Titel „Karl Jäger und wir“ initiiert. Die langandauernde kollektive Zusammenarbeit der zahlreichen jungen und älteren Beteiligten mit Aufenthalten in Litauen, die Interviews mit Zeitzeugen dort, die lebendige gemeinsame Debatte um Gestaltungsfragen des Films und schließlich das große Interesse bei der Premiere hatten bei allen Mitwirkenden tiefen Eindruck hinterlassen. Die Ideenwerkstatt trieb in der Folge weitere Forschungsarbeiten zum Thema voran, die <ihren Niederschlag fanden. Die ehrenamtlich agierenden Autoren, professionelle Historiker und historische Laien, haben darin neben den genannten Ereignissen viele weitere Themenkomplexe bearbeitet. Das schrittweise, strategisch geschickte Erstarken der NSDAP gegenüber der ursprünglich starken Zentrumspartei vor 1939, Aufbau, Zusammensetzung und Taten der verschiedenen Nazi-Organisationen, der aktive Widerstand aus der Arbeiterbewegung von kommunistischer und sozialdemokratischer Seite, aber auch von einzelnen Pfarrern und Konservativen wurden ebenso spannend behandelt, wie die versöhnlerische Haltung der erzbischöflichen Amtskirche und die Erschießung von sieben Wehrmachts-Deserteuren noch kurz vor Kriegsende in einer Sandgrube am Bruckwald. Bei all dem genügen die sorgfältige Aufmachung, die klare Gliederung und nicht zuletzt das umfangreiche Anmerkungs-Glossar mit einschlägigen Nachweisen in allen Punkten wissenschaftlichen Anforderungen.
Vielleicht noch wichtiger als die Aufdeckung der historischen Fakten und Zusammenhänge ist der gesamte Prozess, der dieser Publikation vorausging. Hier wurde nicht abgehoben geforscht, sondern ein vorläufiges Fazit einer jahrzehntelangen Entwicklung hin zu vorurteilsfreier Aufklärung gezogen. „Dieses Buch ist aus der Gesellschaft heraus für die Gesellschaft entstanden“, resümierte Wolfram Wette im Gespräch. Die Aufarbeitung dieser grauenvollen Geschichtsperiode und die daraus resultierenden Konsequenzen für die heute Lebenden sind somit nachhaltend im Bewusstsein der Menschen verankert, zumal die Beteiligten ihre Erkenntnisse auch weiterhin in Schulen, Kursen oder Vorträgen vorstellen werden. Mit Blick auf aktuelle politische Entwicklungen ist dies ein wichtiger Beitrag, damit der Schwur der Überlebenden des KZ Buchenwald „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus“ weiterhin Gültigkeit besitzt.
Das Buch ist im Donath Verlag erschienen und kostet im Buchhandel 29,80 Euro.

Bildquellen

  • Herausgeber und Autor Wolfram Wette beim Mahnmal für die auf Befehl von Karl Jäger exekutierten 138.000 Juden in Litauen: E. Krieger