Rosengarten des Widerstands: Jenny Odell schreibt über das „Nichts tun“ als politischen Akt

Die Künstlerin und Autorin Jenny Odell hat ein Buch über das „Nichts tun“ geschrieben. Ein überraschend politisches Bekenntnis zum Abseitsstehen und der aufmerksamen Neuentdeckung des eigenen Umfelds. Am Ende wird überdeutlich: Was die enorme Einflussnahme der Medien auf unser Bewusstsein am ehesten bricht, ist der Blick auf den Boden, auf dem wir stehen.
„Ich ging in dieses Buch hinein und kam als eine andere heraus. Betrachten Sie es also nicht als abgeschlossene Informationsübermittlung, sondern stattdessen als offenen und ausgedehnten Essay […]. Es ist weniger ein Vortrag als die Einladung zu einem Spaziergang.“ Bücher sind oft Einladungen in andere Welten, nur nicht immer im Sinne einer positiven Erfahrung: Oft stehen Konflikte im Mittelpunkt, Konflikte, die unruhig machen, darin aktivieren, packen, fesseln, einnehmen. Jenny Odells „Essay“ hingegen lädt zunächst dazu ein, „Nichts [zu] tun“. Und doch beschreibt es seinen Konflikt bereits im Untertitel: „Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen“. Klingt anstrengend. Ein Spaziergang durchs Dickicht also?
Jenny Odells ausgedehnter Spaziergang beginnt inmitten eines Parks, dem Morcom Amphitheatre of Roses in Odells Heimatstadt Oakland, Kalifornien. Der „Rosengarten“, wie sie ihn nennt, ist kein quadriertes Rasenfeld, das man geordnet abschreiten kann, sondern ein im besten Sinne unwegsamer Ort. Der Weg ist unstet, führt zwischen Pflanzen und Tieren an andere Orte und durchbricht damit den Alltag, der uns allzu oft in Routinen verstrickt. Wer den Rosengarten betritt, wird zum aufmerksamen Entdecken aufgefordert. „Nichts tun“ bedeutet für Jenny Odell keinen Nicht-Zustand, sondern die Kapazität, aufmerksam auf sich, seine Umgebung und damit Natur und Mitmenschen zuzugehen. Und dieses Zugehen bedeutet Bewegung, einen Spaziergang als echte Aktion. Entsprechend gliedert sich Odells Buch über die verschiedenen Bewegungsarten, die das „Nichts tun“ vorgeben kann. Wir erfahren vom Ausstieg aus dem Arbeitstrott, vom weit allgemeineren Ausstieg des Menschen aus der innerlichen Routine und, wieder simpler, zu einer Bewegung hin zum Boden, auf dem der Mensch in diesem Moment steht. All diese Bewegungen verlangen Kraft und Ausdauer. Beides Elemente, die uns das durchrationalisierte Design moderner Technologien gerne ersparen und uns auf diese Weise einnehmen möchte. „Aufmerksamkeitsökonomie“ erscheint bei Odell als gezielter Versuch, den Menschen in moderne, kapitalistische Arbeitskreisläufe einzubinden und ihn so von sich selbst, seinen Mitmenschen, der Natur, kurz, seiner Umwelt zu isolieren. Dabei benötigt eine Umwelt, die durch Umweltverschmutzungen und Menschrechtsverletzungen geprägt ist, dringend wertschätzende Aufmerksamkeit.

„Nichts“ als Widerstand
Jenny Odells Analysen moderner kapitalistischer Wirtschaftsmodelle dürften vielen Menschen mittlerweile bekannt vorkommen. Sie bilden die Folie, vor der sich Odells kreative Neubesinnung abzeichnet. Längst bedeutet Teil eines kapitalistischen Systems zu sein nicht mehr bloß der tägliche Einkauf oder die Selbstvermarktung auf dem Arbeitsmarkt. Bereits die Nutzung von Online-Plattformen wie Facebook oder Instagram zur Zurschaustellung der Marke „Ich“ befeuert kapitalschwere Konzerne. Und auch jenseits wirtschaftlicher Analysen hat das unmittelbare Folgen. Denn wo die verbrachte Zeit auf Social Media zu produktiv genutzter Zeit wird, wird Zeit eine „ökonomische Ressource, die wir nicht länger guten Gewissens mit ‚nichts‘ vertun können. Das bringt keine Rendite; es ist einfach zu teuer.“ Für Odell eine grausame Vorstellung. Hier stößt ihr Appel hervor, Zeit und auch Raum wieder für unwirtschaftliche, weniger selbstentfremdende Formen des Seins zu gewinnen. Ein nicht kapitalistisch verwertbares Sein und alle damit verbundenen Menschen, Räume, Zeiträume ist politischer Widerstand.
Kehren wir dazu zum Rosengarten zurück. Was zunächst wie ein unscheinbares Fleckchen Grün und damit als Inbegriff unpolitischer Harmlosigkeit anmutet, kennt eine Geschichte des Widerstands. Inmitten der Stadt Oakland gelegen, ist der Rosengarten findigen Investor*innen und ihrem Ideal der Nutzbarmachung jeder Fläche ein echtes Ärgernis. Nur der vehemente Widerstand der Anwohner*innen, um diese Fläche für Muße, Nichtstun, der Entstehung von Natur beizubehalten, konnte diesen Park vor der Zerstörung bewahren. Seine Pflege wird von Ehrenamtlichen übernommen. Sie und die Anwohner*innen vereint ein Bedürfnis nach solchen Muße-Räumen, die auch Zeiträume eröffnen, in denen man schlicht erst einmal mit sich selbst und der Natur sein kann. Der Park wird zum Akteur eines Widerstands und fügt sich damit neben diverse Modelle und Figuren des widerständigen „Nichts Tuns“, die Odell auf ihrer schlaglichthaften Reise vorstellt.
Prominent erscheinen darunter der alte griechische Philosoph Diogenes und Herman Melvilles berühmter Angestellter Bartleby (eine Figur aus der Kurzgeschichte „Bartleby, der Schreiber“). Diogenes übte frühe Performances der Verweigerung und brach damit immer wieder gesellschaftlich-automatisierte Prozesse auf. Als die Korinther durch eine Belagerung der Mazedonen bedroht waren und alle in eiligste Kampfvorbereitungen verfielen, rollte der alte Weise nur mit Schwung sein Fass. Auf die Frage, warum er das tue, antwortete er nur: „Nur damit ich mir den Anschein gebe, so geschäftig zu sein wie ihr anderen.“ Melvilles Bartleby wiederum erwidert auf die vielen Arbeitsanfragen, die er als Anwaltsgehilfe erhält, nur immer wieder schlicht: „I would prefer not to.“ Anders als die Generation der 60er proben beide Männer nicht den Ausstieg aus der durchrationalisierten Gesellschaft, sondern bleiben in ihrer Mitte und in einem „permanenten Zustand der Verweigerung“. Schnell wird klar, wie radikal ihr Widerstand wirkt, der im Grunde nur ein sanftes Zurückweichen ist, oder, wie Odell es räumlich fasst, ein Abseitsstehen.

Aufmerksamkeit als Neuentdeckung
Haben wir erst einmal eine kritische Distanz zu den automatisierenden Prozessen der Gesellschaft gefunden, gilt es, die Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu richten. Hier wirkt der weite, raumgebende Begriff des „Nichts tun“ äußerst produktiv. Indem wir ein Gefühl für unsere Umwelt, die Odell in all ihren Faktoren als „Bioregion“ bezeichnet, entwickeln, können wir nicht nur in aufmerksame Verbindung mit ihr treten, sondern auch Schäden, Zerstörungen entdecken. Staudämme, versiegelte Böden, abgeholzte Bäume, zerstörte Grabmale von Ureinwohner*innen, Vertriebene aufgrund von Gentrifizierung oder gar Genozid. Der genaue (Rück-)Blick auf unser Umfeld ist nicht immer der Blick auf den zauberhaften Rosengarten, sondern auch auf eine Umgebung, die durch Verschmutzung oder Zerstörung geprägt ist.
Eine Homogenisierung solcher Bereiche durch gedachte wie gelebte Automatismen blockiert den Blick auf solche Brüche in Raum und Zeit. Erst wenn sie erkannt werden, kann für sie Raum geschaffen werden. Und dieses Raum-Schaffen muss wie bei Diogenes, Bartleby oder dem Rosengarten inmitten der Stadt, aus der Mitte heraus geschehen. Deshalb plädiert Jenny Odell für keine Gesellschaftsflucht, sondern für eine umsichtige Wiederherstellung des gemeinsamen Kontexts, „den wir verloren haben“. Den Spaziergang sollten wir also nicht allein unternehmen, sondern mit unseren Mitmenschen und der Natur.

Jenny Odell, „Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen“, C.H. Beck 2021.

Bildquellen

  • Jenny Odell, „Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen“,: C.H. Beck 2021.