Regine Effingers Inszenierung von „Die Laborantin“ nach Ella Road feierte im Wallgraben Theater Premiere

Erster Akt, Szene 1 – Karambolage des zukünftigen Paares mit Materialchaos und anschließender Verabredung – ein klassisch romantisches Kennenlernen also, nur dass hier nicht gemeinsam irgendwelche verstreuten Papierstapel vom Boden aufgesammelt werden, sondern jede Menge Röhrchen mit Blutproben. Umso schlimmer, nämlich eine Katastrophe!, so Laborantin Bea (ehrgeizig, geradlinig, taff: Katharina Rauenbusch), denn wenn jetzt was fehlt oder vertauscht wurde, ist sie ihren Job los. Doch Aaron (als Melancholiker mit ebenso verspieltem wie schlagfertigem Humor: David Köhne) hilft ihr – und ist überhaupt süß: Er sammelt alte Münzen, ist mit einem berühmten Dichter verwandt und hat ein spektakuläres Blut-Rating von knapp unter 9. Beste Voraussetzungen für eine Beziehung mit eventueller Familiengründung also!
Was es mit diesem Rating auf sich hat, ahnt das Publikum im Wallgraben-Theater da schon, denn es gibt in Regine Effingers dichter Inszenierung von „Die Laborantin“ (UA 2018 in London, deutschsprachige Erstaufführung 2021 Dresden) eine Art Prolog auf dem Riesen-Monitor, der neben ein paar weißen Stühlen und einem mobilen Ledersofa auf der klinisch-steril-futuristischen Bühne steht: Da fordert eine Wissenschaftlerin bei ihrem feurigen Vortrag 2017 das Recht auf vollständige Genom-Sequenzierung für die ärztliche Praxis. Die Schwangerschafts-Frühdiagnostik lässt ahnen wohin die Reise geht… Die junge Schauspielerin und Autorin Ella Road geht ein paar Schritte weiter und dekliniert die Problematik anhand ihrer vier Figuren durch: Wie ist das, wenn das Blut noch mehr Infos über Veranlagungen und zukünftige Krankheitsausbrüche liefert? Wenn diese Infos ein öffentliches Rating-System füttern und damit den Wert eines Menschen vermeintlich messbar machen – in einer Skala von 1 bis 10. Dann wird sich unsere Leistungsgesellschaft noch weiter pervertieren…
Ella Roads Stück spielt in naher Zukunft: Obst und Gemüse sind unerschwinglich geworden, bei Bewerbungen sind Rating-Werte erwünscht, wenn auch noch nicht Pflicht. Gesund, intelligent und stark – das ist der Schlüssel zum Erfolg, High-Rater ist allerdings nur, bei wem das auch so bleibt. Da hat Beas Freundin Charly (Stefanie Verkerk) richtig Pech: Jahrelang hat sie geschuftet und geackert, doch jetzt eröffnet ihr Gentest eine fiese Krankheit, die bald ausbrechen wird – Wert 2, Low-Rater, Karriere futsch. Lange wehrt sich Bea, dann löscht sie auf Charlys verzweifeltes Drängen deren Datei und tauscht die Proben aus. Doch während die Freundin bald zur politischen Akteurin im Anti-Ratismus-Kampf wird, entwickelt sich Bea nach diesem ersten Betrug im lukrativen „Nebenjob“ zur Blut-Dealerin und Handlangerin, schließlich ist sie seit dem Selbstmord der depressiven Mutter hoch verschuldet und will auch ein Stück vom Kuchen. Ihre Haltung und Rolle innerhalb eines unmenschlichen System – darum geht’s.
Das Thema ist ein Stück weit also austauschbar und auch in vielen Sciencefictions zu finden, hier wird es entlang einer Liebesgeschichte auf der Bühne mit überzeugendem Schauspiel erzählt. Flankiert und rhythmisiert von vielen kreativen und auch lustigen Videos per XXL-Flachbildschirm: Ob Beiträge aus der My Rate Date App oder Nachrichten über Sterilisationen von Low-Ratern, ob Mitschnitte aus der Beschwerde-Hotline der Gesundheitsbehörde oder Talk mit einem „Uprater“ – der potentielle Alltagswahnsinn einer Gesellschaft, die Perfektion und Sicherheit als Goldenes Kalb feiert und dabei längst die Fähigkeit zu Liebe und Glück verloren hat. Deswegen wird’s am Ende auch ein Drama…

Weitere Termine in unserem Veranstaltungskalender und auf www.wallgraben-theater.com

Bildquellen

  • Bea, die Laborantin, gespielt von Katharina Rauenbusch: Foto: Wallgraben Theater