Raum für Selbstbestimmung

„Fleisch und Puppen“ mit DOSSIER 3-D-Poetry im E-Werk

Emily Welther: Mutter oder Femme fatale?Foto: Wolfgang Zurborn

Weißes Fleisch blitzt aus dem Dunkeln. Im Zwielicht schälen sich zwei kniende Männer mit heruntergelassenen Hosen heraus, auf deren nackten Rücken ein launiger Zeichentrick-Film projiziert wird: Ein Krikelkrakelkind schiebt eine Karre, hüpft munter über Muskelberge. – Eine starke Eröffnungssequenz für das in der Kölner Wachsfabrik 2012 uraufgeführte und für den Kölner Tanz- und Theaterpreis nominierte Stück „Fleisch und Puppen“, mit dem Marion Dieterles 2006 in Freiburg gegründete DOSSIER 3-D-Poetry jetzt zweimal im ausverkauften E-Werk-Saal gastierte.

Wo der gedoppelte Ken strotzende Männlichkeit demonstriert, ist Barbie nicht weit: Während Tim Behren und Florian Patschovsky sich in eine Runde Liegestützen werfen, schiebt Marion Dieterle in knallengem Minikleid auf schwindelerregenden High Heels einen Miniatur-Kinderwagen, der ihr Rückrat so zu Boden knechtet, dass der Po wie ein Ausrufezeichen in die Luft ragt. Als sie immer wieder erschöpft zusammenbricht, werden ihre Puppenglieder von Emily Welther verbogen, herumgeschleudert und wieder in die Senkrechte gezwungen.
Mutter und Hure, Macht und Ohnmacht, Familienfalle, Krieg der Geschlechter – ein Strom unterschiedlichster Assoziationen flimmert da am inneren Auge vorbei. Wo zwischen gesellschaftlich und multimedial zementierten Stereotypen noch Raum ist für Selbstbestimmung, Lust, Nähe oder gar ein glückendes Familienexperiment, das loten die vier Tänzer während der folgenden Stunde in einem ebenso poetischen wie kraftvollen Bilderbogen aus.
„Anziehen – Ausziehen“ , tönt es aus dem Off, im Hintergrund leuchtet ein blau florenzierendes Plastikbecken, dazu plätschert und ploppt eindringlicher Synthesizer-Sound (Musik: Ralf Freudenberger). Und richtig: Man zieht sich an und stößt sich ab, man zieht sich aus und wieder an, sucht Halt und hält. Das sind traumverlorene, berührende, aber auch rüde Szenen: Wenn Marion Dieterle ihren riesigen Schatten auf der Leinwand zwischen Selbstvergewisserung und Projektion für fremde Augen tanzen lässt, wenn sie dann Emily Welther in die Knie zwingt und wie einen Hund an der Leine führt, wenn Tim Behren und Florian Patschovsky Begrifflichkeiten wie „aufeinander stehen“ oder „einander verfallen“ in atemberaubende Akrobatik umsetzten – dann zeigt sich die Güte dieser Produktion: Statt Abstraktion liefert man unmittelbare, aber raffinierte Körperbilder, die der Zuschauer meist mühelos auf eigenes Erleben übertragen kann. Damit knüpft Dieterle am Konzept der preisgekrönten Nouveau Cirque-Kompanie HeadFeedHands an, der auch Behren und Patschovsky angehören.
Im dramatischen Hell-Dunkel der acht Scheinwerfer, die rechts und links der leeren Bühne Spalier stehen (Licht: Wolfgang Pütz), wird so um Identität, Autonomie und Nähe gerungen: Die Frau, die manisch ihre Pumps sortiert und dazu Müttersprüche schreit. Das Begehren und die Zärtlichkeit, die zwischen den Paaren in unterschiedlichen Konstellationen aufblitzten und ganz schnell in Übergriffe, Abhängigkeit und Enttäuschung kippen. Der ganze, alte Beziehungsdschungel und dessen Brüche – und mittendrin das Kind wie ein Versprechen: Erst als putzig brabbelnde Holzpuppe, dann als Dritter, der sich ein Nest zwischen den Körpern baut. Das ist trotz kleiner Trivialitäten fesselnd und immer großartig getanzt. – Eine ehrliche und facettenreiche Zustandsbeschreibung, mit großer Ernsthaftigkeit umgesetzt. So ernsthaft, dass trotz launiger Familienposen am Ende auch viel Schwere bleibt…
Marion Klötzer