Nachhaltig

Mein schönstes Ferienerlebnis: Zum Auftakt der Reisesaison ein Loblied auf ein wundervolles Gesetz

„Ich kann diesen kalten, grauen Winter in Deutschland nicht mehr ertragen. Ich hab‘ mir mal wieder eine Woche Türkei gegönnt: Hotel, Flug, komplett für nur XY Euro“. Das Bedürfnis, die dicken, regendichten Klamotten von sich zu schmeißen kennt die Wärmflaschen- und Sonnenlicht-affine Autorin wohl auch. Aber Türkei? Jetzt? Und Fliegen? Gibt es vielleicht noch andere Möglichkeiten, den dunklen, verregneten Winter etwas abzukürzen? Zeit, etwas auszuprobieren.
Am Mittelmeer blühen bereits Ende Februar die Akazien und Mandelbäume und die französische Bahn fährt zwischen Marseille und der italienischen Grenze die gesamte Küste ab. Vor Ort gibt es fantastische Wanderwege, direkt am Meer entlang. Mal kraxelt man über die schroffen Felsen und wirft einen Blick auf die Seeanemonen in den Gezeitentümpeln. Dann hat jemand Holztreppen, Geländer, Plateaus oder gar Stöckelschuh-gängige Passagen in die Felsen gebastelt. Man steigt weit nach oben, zwischen Rosmarin und Oliven-Bäumen hindurch. Wilde Lilien, Kapkörbchen und Malven blühen. Einige Klippen sind komplett mit den schrill-pink blühenden Hexenkrallen überwuchert. Möwen kreischen. Auf einem Fels weiter draußen hängt eine Gruppe Kormorane ihre Flügel zum Trocknen in die Sonne. Unterhalb der Holztreppen zeigt sich das türkisfarbene Meer von seiner wilden Seite, Wellen peitschen an die Felswand. Weiter geht’s über sandige Strand-Abschnitte, vorbei an einem winzigen öffentlichen Gärtchen, mit kleinen Info-Tafeln zur heimischen Flora und zum Küstenschutz. An anderer Stelle führt ein Küstenwanderweg an einem Feuchtgebiet vorbei und man trifft unerwartet auf eine Gruppe Flamingos.

Ein Hoch auf die Verbote!
All diese schönen Dinge kann jeder und jede sehen und erleben, weil es ein fantastisches Gesetz gibt, das man spontan zum schönsten Gesetz der Welt küren möchte: „La Loi Littoral“, das Küstengesetz. Ein Hoch auf die Verbote, die Gutes bewirken! Dieses Gesetz verbietet es den Reichen und Schönen und all den Immobilienspekulanten, sich die komplette Küste unter den Nagel zu reißen. Egal ob Hollywood-Sternchen, Wirtschaftsboss, Sport-Ikone oder Oligarch, sie dürfen die Grundstücke ihrer Prachtvillen nicht bis ans Wasser mit martialischen, Speerspitzen-bewehrten Metallzäunen und meterhohen Mauern vor der Öffentlichkeit abriegeln. Der letzte Meter Küste gehört allen. Das Gesetz trat 1986 in Kraft und ist zurückzuführen auf die Einrichtung eines Umweltministeriums unter dem sozialistischen Präsidenten François Mitterand. Der von ihm eingesetzte Umweltminister Michel Crépeau war seinerzeit einer von ganz wenigen, die sich überhaupt für Umwelt- und Naturschutzbelange einsetzten und war damit so erfolgreich, dass er auch den Präsidenten dafür sensibilisieren konnte. Aber nicht nur ihn, „La Loi Littoral“ wurde im Dezember 1985 einstimmig im Parlament verabschiedet. In den Ballermann-Betonburgen und den Asphaltwüsten anderer Küstengebiete lässt sich beweinen, was womöglich ohne so wundervolle Verbote entstanden wäre. Und während man die Teekanne und die Picknick-Leckereien auf einer Fels-Terrasse auf einer Decke ausbreitet, denkt man an zu Hause, wo man bald mit den Füßen in die Dreisam kann. Weil sie allen gehört. Oder an das frühere zu Hause, wo die Zäune der Villen große Teile der Seen in der Stadt für das Fußvolk unerreichbar machen. Man blinzelt in die Sonne und stößt mit den Teetassen an: Ein Hoch auf die Verbote!
Ein paar Tage später, mündliche Mitarbeit in einer Sprachschule von Antibes, einer Hafenstadt am Fuße der französischen Seealpen: Die Kursteilnehmerinnen berichten von ihren Anreisen und den geplanten Abreisen. Die aktive Rentnerin, nennen wir sie Cordula, berichtet von ihrem Flug – und das klingt sehr beschwerlich. Um 8 Uhr in der Frühe sei sie in Nizza gelandet, dann mit dem Taxi vom Flughafen zum Hotel, billig sei das nicht gewesen. Und dann konnte sie erst um 12 Uhr in ihr Zimmer! Sie sei den ganzen Morgen mit dem Koffer und dem schweren Rucksack unterwegs gewesen. Cordula läuft nicht ganz rund und erntet mitleidige Blicke.
Die sympathische, sportliche Schweizerin Chrissi hat für die Rückreise sportlich-herausfordernde Pläne: Am Freitag nach dem Kurs nichts mehr großes, ein bisschen Packen und früh ins Bett. „Pah!“ denkt die Streberin, „dann doch lieber noch einen Nachmittag Grammatik lernen am Strand!“ Chrissi muss um 3 Uhr aufstehen, damit sie den Flieger am Samstagmorgen kriegt. Sie ist in den Eidgenössischen Alpen zum Ski-Wandern verabredet. Puh! Schneller Leben. Diese jungen Leute …
Und natürlich wird man selbst nach den Rückreiseplänen gefragt und erzählt in staunende Gesichter hinein, was man sich da ausgedacht hat – inspiriert durch einen freiheitsliebenden, jungen Mann, der sich einen Spaß daraus macht, Landesgrenzen zu Fuß zu überschreiten. In der Retrospektive hat sich der Rückreiseplan als großartig herausgestellt, aber das war während der praktischen Sprachübung noch gar nicht so sicher. Am Samstag gings mit dem Küstenzug in zwei Stunden nach Marseille. Dort wurde ad hoc eine billige Absteige am Bahnhof gefunden und so war der ganze Tag frei zum Rumstromern, Treiben lassen, Straßenmusiker:innen zuhören, Sonne genießen.
Am Sonntag brauchte der TGV gut viereinhalb Stunden bis Mulhouse. Und dann kam die Stelle, an der die Kursteilnehmerinnen ziemlich ungläubig geschaut hatten. Am Sonntagmittag verschwanden die Schuhe im Rucksack und wurden gegen Inliner getauscht. Direkt am Bahnhof Mulhouse vorbei führt der Eurovelo 6, der 4450 km lange Radwanderweg zwischen dem Atlantik und dem schwarzen Meer. Was für eine freudige Überraschung! Das ging auch einige Kilometer gut, bis das geteerte Band nach Süden, in Richtung Basel abknickte. Also weiter auf dem Eurovelo 5, der wiederum den italienischen Stiefel-Absatz mit der belgischen Küste verbindet. Müsste man auch mal machen … Aber dann wirklich lieber mit dem Rad, denn der Belag ähnelte über weite Strecken einer Mischung aus Asphalt-Streuselkuchen und Schmirgelpapier. Gut, dass man nicht alles den Mitschülerinnen beichten muss! Und dann war da dieser Moment, als die Rollen über die Rheinbrücke kullerten und der frische Wind ins Gesicht blies. Das fühlte sich wirklich eigenartig gut an, zu Fuß anzukommen. Danke lieber Grenz-Gänger für diese geniale Inspiration! Den Rest ÖPNV ab Müllheim kennt man.
Ach wär das schön, wenn ganz viele fänden, dass Reisen schöner als Fliegen ist! Wenn die ganze Reise-Kaufkraft weg von den gepamperten Billigfliegern, hin zu den schönen Zügen kanalisiert würde! Wie schön war es, im TGV-Bordbistro einen Kaffee zu trinken, während an der großen Panoramascheibe die Landschaft vorbeiflog! Ach, und dieser entzückend-freundliche Kontrolletti, der einen in aller Ruhe die Bildchen für die Lieben daheim machen ließ, bevor er den Fahrschein sehen wollte! Wie gut wäre es, wenn die schönen Nachtzug-Linien, die nach und nach eingestampft wurden, wieder belebt werden würden! Wenn wir nicht mehr massenhaft glaubten, wir müssten weit weg in die Natur-Paradise, während wir unser Paradise mit unserer Nachfrage nach Start- und Landebahnen versiegeln.

Bildquellen

  • Sentier littoral, (frz.: Küstenwanderweg) an der Mittelmeerküste: Foto: Eva Stegen