Léon Poliakov: „Vom Hass zum Genozid. Das Dritte Reich und die Juden“

„Léon Poliakovs Buch über das Dritte Reich und die Juden ist das erste, das die späten Phasen des Nazi-Regimes strikt auf der Grundlage von Primärquellen darstellt. Er hat einen Blick für das Wesentliche und verfügt über eine vollständige und intime Kenntnis der komplizierten Verwaltungsmaschinerie Nazi-Deutschlands“, schrieb Hannah Arendt in ihrer Rezension des Buches „Breviaire de la haine. Le III Reich et les Juifs“. Bald nach der französischen Originalausgabe 1951 wurde es in mehrere Sprachen übersetzt, doch mussten siebzig Jahre vergehen, bis es nun unter dem Titel „Vom Hass zum Genozid. Das Dritte Reich und die Juden“ auf Deutsch vorliegt. Bewältigt hat diese Herkulesarbeit der Historiker und Politologe Ahlrich Meyer (*1941), emeritierter Professor der Universität Oldenburg, dem wir auch die Übertragung von Serge Klarsfelds bahnbrechender Recherche „Vichy-Auschwitz“ (1989) verdanken sowie eigene Forschungen zum Thema, darunter „Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung“.

Léon Poliakov. Vom Hass zum Genozid. Das Dritte Reich und die Juden. Aus dem Französischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort von Ahlrich Meyer. 599 S.Schon 1943 hat Léon Poliakov (1910–1997) begonnen, für sein Buch zu recherchieren; damals war er gemeinsam mit Isaac Schneersohn in der französischen Résistance aktiv und beteiligte sich mit rund vierzig anderen Personen an der sukzessiven Sicherung von Dokumenten zur NS-Verfolgung. Auf diese Weise wurde das Centre de Documentation Juive Contemporaine (CDJC) in Paris begründet, das heute Teil der zentralen französischen Gedenkstätte und Forschungseinrichtung Mémorial de la Shoah ist.
Für seine Studie hat Poliakov über 200.000 Dokumente ausgewertet, darunter Aktenmaterial des „Judenreferats“ der Gestapo, das die NS-Besatzung 1944 beim Rückzug aus Paris zurückgelassen hatte, sowie Dokumente der Parallelinstitution des Vichy-Regimes, der „Commissariat Général aux Questions Juives“ (CGQJ); wichtige Unterstützung erhielt er durch seinen Mitstreiter Joseph Billig. Des Weiteren verfügte Léon Poliakov über die kompletten Ermittlungsakten der Nürnberger Prozesse, da er als Sachverständiger der französischen Delegation 1946 bis 1948 beim Internationalen Gerichtshof der Alliierten gegen die NS-Führung mitwirkte. Poliakovs Quellenmaterial ist mittlerweile vollständig archiviert. Ahlrich Meyer hat für die deutsche Ausgabe des Buches zahlreiche Originale ausgegraben, um Rückübersetzungen aus dem Französischen zu vermeiden; auch hat er in Fußnoten neuere Forschungsergebnisse und Korrekturen eingearbeitet. Eine editorische Notiz gibt zusätzliche Auskünfte, z.B. zu den Begrifflichkeiten, die sich seit den Fünfzigerjahren verändert haben; damals bezeichnete man etwa die Ermordung der Juden als Genozid, die Termini Holocaust oder Shoáh waren noch nicht gebräuchlich.
Léon Poliakov antizipierte die später von Hans Mommsen formulierte These von der „kumulativen Radikalisierung“, als er schrieb: „Es wäre sicher ein Irrtum anzunehmen, den Prophezeiungen Hitlers hätten ein genauer Plan und im Voraus gefasste Entschlüsse zugrunde gelegen.“ Poliakov betont die Prozesshaftigkeit des Geschehens, hebt als Antrieb für den antisemitischen Verfolgungs- und Vernichtungsprozesses ökonomische Aspekte sowie den rassistisch und christlich motivierten Judenhass hervor. Nicht nur Hitlers Führungsriege und abgerichtete Psychopathen, die Massaker im Osten begangen haben, sah er verantwortlich, sondern die gesamte deutsche Gesellschaft. „Was mir damals keine Ruhe ließ“, so Poliakov, „und sicherlich nicht nur mir, das (…) waren die Umstände, unter welchen die Führungsebene des Dritten Reichs beschlossen hatte, mich zu töten, ebenso wie Millionen andere menschliche Wesen.“ Wie kam es zu dieser kaltblütigen Vernichtungsabsicht? Poliakov versucht den Zivilisationsbruch greifbar zu machen, indem er Raub, Versklavung, Ghettoisierung, Deportationen und schließlich die Einrichtung von „Todesfabriken“ chronologisch rekonstruiert. Die Verbindung zwischen Massenmord und „Euthanasie“ thematisiert er ebenso wie das stillschweigende Einverständnis der Bevölkerung und die enge Zusammenarbeit deutscher Dienststellen und NS-Tätergruppen. Zudem widmet Poliakov dem jüdischen Widerstand, der von vielen Historikern bestritten wurde, ein eigenes Kapitel; dieses ist ebenso beeindruckend wie das Kapitel „Vichy-Frankreich als Sonderfall“, das mit Originaldokumenten – insbesondere dem Protokoll, das Heinz Röthke von seiner Unterredung mit Pierre Laval 1943 (15.8.) anfertigte – beleuchtet, wie das Gesetz „über die Aberkennung der französischen Staatsangehörigkeit“ an Pétain und Laval scheiterte und der SS-Mann Röthke feststellen musste, dass für das Projekt der „Endlösung“ die ablehnende Haltung der Italiener zum Hindernis wird und vor allem: „Die französische Regierung will in der Judenfrage nicht mehr mitziehen“. Dies machte die großen Pläne des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), u.a. in Person von Röthke und Alois Brunner, nach und nach zunichte; trotzdem war die Verfolgung nicht beendet, die Besatzer setzten sie fort, teils unterstützt von der „Milice française“, die aber in der französischen Bevölkerung weder eine breite Basis hatte, noch eine antisemitische Hysterie auslösen konnte.
„Vom Haß zum Genozid“ ist ein Buch, das der Ideologieproduktion entgegenwirkt, indem es die Vorgänge genau darlegt und u.a. zeigt, wie wenig es angebracht ist, in unserer Beziehung zur Vergangenheit nur das zu beachten, was auf den ersten Blick sichtbar ist, nämlich die Deportationen. Denn in dem von den Nazis besetzten Europa ist Frankreich das Land, in dem die jüdische Bevölkerung proportional am wenigsten Verluste erlitten hat. Auch Poliakovs Mitstreiter Isaac Schneersohn, Gründer des Centre de documentation Juive Contemporaine (CDJC), hat am Ende des Krieges festgehalten: „Nach Beurteilung des Archivmaterials, das wir gesichert haben, aber auch ausgehend von unserer persönlichen Erfahrung, können wir sagen, dass die französische Bevölkerung zwei Drittel der Juden in Frankreich gerettet hat.“ Die Grauenhaftigkeit der Shoah darf die Erinnerung an den (Rettungs-)Widerstand und die komplexen Machtkämpfe zwischen Besatzern, Kollaborations-Regime und Bevölkerung nicht ausgrenzen, damit die Gesamtzusammenhänge erkennbar bleiben; Poliakov leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Er scheint prädestiniert gewesen zu sein, die historischen Ereignisse nicht einseitig wahrzunehmen; als Kind war er 1920 mit seinen Eltern dem sowjetrussischen Machtbereich entflohen und aus St. Petersburg nach Paris gelangt, im Zuge der NS-Besatzung Frankreichs sah er sich erneut auf der Flucht. Einzelheiten dazu enthalten seine autobiographischen Aufzeichnungen „St. Petersburg – Berlin – Paris: Memoiren eines Davongekommenen“. Wichtig bleibt zu erwähnen, dass Poliakov, gemeinsam mit dem Holocaustüberlebenden Joseph Wulf (1912-1974), der in West-Berlin lebte, zwischen 1955 und 1958 drei Dokumentenbände zu NS-Tätergruppen veröffentlicht hat. In puncto Erinnerungsarbeit bot sich für Wulf jedoch in Deutschland ein vergleichsweise wenig günstiges Forschungsklima; in Frankreich waren Überlebende und NS-Gegner besser vernetzt und konnten, wie Poliakov, schon gegen Kriegsende eine Aufarbeitung der Verbrechen beginnen.

• Léon Poliakov. Vom Hass zum Genozid. Das Dritte Reich und die Juden. Aus dem Französischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort von Ahlrich Meyer. 599 S. Ed. Tiamat 2021
• Ders. St. Petersburg – Berlin – Paris: Memoiren eines Davongekommenen. Ed. Tiamat. Berlin 2019

Weiterführende Literatur
• Meyer, Ahlrich (Hg.). Der Blick des Besatzers. Propaganda-Photographie der Wehrmacht aus Marseille 1942-1944. Vorwort Serge Klarsfeld. Ed. Temmen 1999
• ders. Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940-1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung. WB. Darmstadt 2000
• ders. Täter im Verhör. Die „Endlösung“ der Judenfrage in Frankreich 1940-1944. Darmstadt 2005
• ders. Täter und Opfer der „Endlösung“ in Westeuropa. Paderborn 2010
• Meinen, Insa/Meyer, Ahlrich. Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938-1944. Unter Mitarbeit von Jörg Paulsen. Ferdinand Schöningh Verlag. Paderborn 2013

Bildquellen

  • Ders. St. Petersburg – Berlin – Paris: Memoiren eines Davongekommenen.: Ed. Tiamat. Berlin 2019
  • Ed. Tiamat 2021: Ed. Tiamat 2021