Krähenkuss – Ballettabend „3 Generationen“ am Staatstheater Hannover

Tänzer sind Nomaden, sie wechseln von Spielzeit zu Spielzeit, von Projekt zu Projekt ihren Standort und sind nirgendwo zu Hause, außer im Theater, im Ballettsaal. Wieviel mehr gilt dies für Choreographen, die wiederum von Compagnie zu Compagnie wechseln, um ihre Stücke zu kreieren. Marco Goecke hat dieses Leben 17 Jahre lang gelebt, vom Standort Stuttgart aus seine Werke deutschlandweit und auch international kreiert und einstudiert. Nun hat Marco Goecke seit dieser Spielzeit mit der Leitung des Balletts an der Staatsoper in Hannover einen festen Standort gefunden und präsentiert in der dritten Tanzpremiere dieser Spielzeit mit „3 Generationen“ einen Abend, der neben seiner eigenen Kreation „Kiss a Crow“ auch „Concertante“, ein Werk seines großen Vorbilds Hans van Manen, Meister der Klassischen Moderne im Tanz zeigt. Dieser revolutionierte mit seinem puristischen und trotzdem emotionalen Stil die Ballettwelt – welche Ehre für Goeckes neu gegründete Truppe, sein Ballett „Concertante“ zu Musik von Frank Martin zu tanzen!
Eine Choreographie, die sich über ihre Musikalität dem Publikum mitteilt. Zurückhaltend im Stil, prägnant in der Aussage, präsentiert er Soli, Gruppenformationen und einen modernen Grand Pas de Deux, der durch seine verhaltene Aggression und gleichzeitige Anziehung zwischen Mann und Frau besticht. Herausragend hier: Ana-Paula Camargo und Maurus Gauthier.
Raffinierte Wendungen, überraschende Momente, vom Fokus gesteuerte Schrittfolgen und schlüssige Gruppenbilder bieten sich dem Zuschauer in abwechslungsreicher Folge. Dann ein kaum merkliches, aber gut strukturiertes Crescendo bis zum überraschenden Schluss. Davon hätte man gerne noch mehr genossen. Dankbar überreicht dann auch Marco Goecke selbst seinem Mentor den Premieren-Blumenstrauß, den dieser wiederum an die Compagnie weiter gibt. Eine schöne Geste.
Begonnen hatte der Abend mit „Rise“, einer Choreographie von Emrecan Tanis, die Macht und Ohnmacht thematisiert. Ein sehr starkes Bild gleich zu Anfang: der Tänzer (auch hier: Maurus Gauthier) rennt und rennt durch ein flirrendes Hologramm von Türen und Gängen seiner Bestimmung entgegen. Zunächst Anführer einer Gruppe, später dann der Herrscher, der seine Menschen wie Marionetten funktionieren lässt und auf ihnen regelrecht spazieren geht. Dies alles hochenergetisch getanzt und zu einer interessanten Soundcollage, die allerdings mitunter zu theatralisch wirkt, z.B. beim dramatischen Niedergang des Machthabers, der mit Dampf – durch seine Mantelöffnungen entweichend – den Orchestergraben hinunterfährt. Vielleicht ein wenig zu viel Emphase für eine halbstündige Choreographie? – Berührend allerdings war dann das Schlussduett der zwei „Überlebenden“, Giada Zanotti und Giovanni Visone, die das Stück in aller Zartheit und in Stille ausklingen lassen. – Viel Applaus gab es für den Newcomer.
Als Letztes die Uraufführung „Kiss a Crow“ von Marco Goecke zu Musik der Popikone Kate Bush. „Krähe, wunderliches Tier …“ schrieb schon Wilhelm Müller in Schuberts „Winterreise“. Wunderlich kann dem Zuschauer auch werden, wenn er diese neueste Kreation von Marco Goecke erlebt: ein düsterer, emphatisch vorgetragener Tanz zu laut dröhnender Musik. Begleitet manchmal von eigenen Schreien werden da Abgründe gezeigt, die den Zuschauer nicht kalt lassen können. Ein sehr physischer, tabuloser Tanzstil mit spitzen Händen, pickenden Köpfen und Händen, zu Krallen geformt … Persönliche Verausgabung, nervöse Emotionalität stehen im Vordergrund und die Tänzer/Innen zerreißen sich regelrecht für Marco Goecke, um seinen Visionen körperlichen Ausdruck zu verleihen. Die Choreographie übt eine düstere Faszination aus, sie lässt uns am Ende des Abends nicht los, gibt uns nicht wieder frei. Die Krallen der Krähen haben sich in den Bauch gegraben …
Schade nur, dass an diesem Abend nicht ein Mal die gesamte 27-köpfige Compagnie zusammen auf der Bühne zu erleben war. Ein vielversprechender und mit jubelndem Applaus bedachter Tanz-abend, der noch Vieles für die Zukunft erahnen lässt und der aufzeigt, wie die Generationen im Tanz sich gegenseitig befruchten können.

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  • Rise_c_Bettina Stöß: Foto: Bettina Stöß