Kleists „Michael Kohlhaas“ feierte im Theater im Marienbad Premiere

Wenn erfahrenes Unrecht zur Selbstjustiz führt

Glaubt man Spontan-Umfragen unter ehemaligen Schülerinnen und Schülern, so finden sich wenige wirkliche Fans von Heinrich von Kleists 1810 veröffentlichter Novelle „Michael Kohlhaas“. Umso mutiger vom Theater im Marienbad, den Klassiker in Franziska Steiofs Fassung zu inszenieren.

Das Bühnenbild von Jens Dreske für die Inszenierung des 1976 in Freiburg geborenen Regisseurs Matthias Kaschig ist aufregend: Ein roh gezimmertes und mit jeder Menge Blut besudeltes Podest ragt spitz zulaufend ins Schwimmbecken, begrenzt wird es mit weißer Papierrückwand und Stangengestell, von dem wie am Schafott die überdimensionierten, aus dicker Pappe gefalteten Köpfe der drei Spieler an Ketten baumeln. Das wirkt plakativ, trashig und unheilverkündend.

Umso krasser der Kontrast zu den lustigen Kostümen von Lisa Bräuniger, Daniela Mohr und Christoph Müller: Die tragen schwarz-weiß geringelte und gestreifte Strumpfhosen, Wämse und kurze Pluderhosen – eine Fantasie-Kreation aus Stummfilm-Clownerie und Sträflings-Parodie. Hier wird also eine Geschichte exemplarisch verhandelt: Willkommen auf dem Marktplatz, die Gaukler spielen auf!

Dann geht es los in bester Erzähltheater-Manier: „An den Ufern der Havel lebte um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts ein Rosshändler namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten und zugleich entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.“ Die eigens komponierte Musik von Carlo P. Thomsen dröhnt bedrohlich dazu in einem Mix aus Streichern und Elektrosound. Noch ist der Kohlhaas aufgeräumt.

Wie aus diesem an Recht und Ordnung glaubenden Bürger ein Mörder und Räuber wird, wie er sich selbst in einem kafkaesken Labyrinth aus Willkür und Vetternwirtschaft verloren geht und dabei alles verliert, wie seine heilige Mission zum Gewaltexzess eskaliert – das schafft weite und aktuelle Interpretationsspielräume: Ist er Terrorist, Dschihadist, Amokläufer, Wutbürger, Gelbwestler? Da hätte es die Ansprache am Bühnenrand mit Texten aus Michel Houellebecqs Werk „Ausweitung der Kampfzone“ gar nicht gebraucht, zumal die nichts mit der Lebenswirklichkeit des jugendlichen Zielpublikums zu tun hat.

Wie diese Kohlhaas-Monster-Mutation auf die Bühne kommt, ist dann so unterhaltsam wie spannend, originell und eindrücklich: Erzählt wird mit blitzschnellen Rollenwechseln, vollem Körpereinsatz und barocken Tänzen, mit fantastischen, schwarz-weiß schraffierten Comic-Projektionen, die den Raum über Smartphone-App zur animierten Kriegs-Radierung explodieren lassen. Es gibt Theaternebel, Taschenlampenverfolgung, Figurentheater mit den Riesenköpfen und viel Sauerei mit Eimern voller Kunstblut. Vor allem zeigen Lisa Bräuniger, Daniela Mohr und Christoph Müller fantastisches, detailliertes und komplexes Schauspiel, bei dem es auch immer wieder was zu lachen gibt. Auch wenn am Ende alle tot sind.

Das letzte Drittel zieht sich allerdings mit all dem Hin und Her, ist doch eigentlich das Wichtigste erzählt, nachdem Kohlhaas und seine plündernde Horde Wittenberg gleich mehrfach in Brand gesetzt haben: Der Einsatz Martin Luthers, die Finte mit jenem selbsternannten Anführer Nagelschmidt, die Querelen der Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg, die Zigeuner-Prophezeiung – viel Historie, wenig Botschaft. Ein nachhaltiges Erlebnis sind diese neunzig Minuten aber unbedingt!

Was: „Michael Kohlhaas“
Wann: weitere Vorstellungen ab September
Wo: Theater im Marienbad
Web: www.marienbad.org

Bildquellen

  • kultur_joker_theater_marienbad_michael_kohlhaas_c_minz_kunst: MINZ&KUNST