Jahrhundertelange Ausgrenzung des Weiblichen

Noch immer sind Frauen sowohl in naturwissenschaftlichen Arbeitsfeldern als auch medizinischen Testverfahren dramatisch unterrepräsentiert

Die Geschichte des neuzeitlichen Wissens ist nicht nur eine Geschichte der Erkenntnisgewinnung, sondern auch eine Geschichte der Macht. Unsere Gesellschaft und Wissenschaft sind gleichermaßen geprägt von einer jahrhundertelangen Ausgrenzung und Entmachtung des Weiblichen. Zwar gab es bereits vor über hundert Jahren Wissenschaftlerinnen, die ihren männlichen Kollegen mit nichts nachstanden, doch wissenschaftliche oder journalistische Publikationen von weiblichen Wissenschaftlerinnen findet man recht selten. Woran das liegt? Seit jeher werden Arbeitsbereiche als „weiblich“ deklariert, insbesondere wenn es um Zuarbeit, Recherche und Co geht. Ein interessantes Beispiel aus der Geschichte der Wissenschaft ist das Projekt „Carte du Ciel“, das 1887 vom Pariser Observatorium unter dem Direktor Ernest Mouchez ins Leben gerufen, aber niemals beendet wurde. Mit dem Aufkommen der Fotografie erkannten die Wissenschaftler*innen die großen Möglichkeiten hinter der neuen Technologie, der Plan: der Himmel sollte mit 22.000 Fotoplatten (je 2°×2°) abgedeckt und damit die Position von etwa einer Million Sterne bestimmt und eine fotografische Himmelskarte erstellt werden. Tatsächlich wurde der Großteil der später in Katalogen publizierten Himmelskörperbilder von Frauen gesammelt, darunter übrigens auch Nonnen. Die zugehörigen Kataloge und weitere Publikationen wurden aber nur unter männlichen Namen veröffentlicht, während die weiblichen Mitarbeitenden für die Öffentlichkeit vollkommen ausgeklammert wurden. Ein Projekt, das sinnbildlich für die Ausgrenzung von Frauen aus der Wissenschaft steht, selbst dann, wenn sie für einen großen Teil der Erkenntnisgewinnung verantwortlich sind.
Auch heute sind noch immer wenige Frauen in naturwissenschaftlichen Arbeitsfeldern tätig. An der technischen Fakultät in Freiburg sind lediglich 18 Prozent der Studierenden Frauen, noch geringer fällt nur die Zahl unter den Doktorandinnen und Professorinnen aus.

Jungs=blau, Mädchen=rosa
Mit dem Slogan „Weil Männer nach Höherem streben“ wirbt der Kinderspielzeughersteller Lego für ein Baggerfahrzeug und ist damit nicht der einzige große Konzern, der bereits in Spielwarengeschäften Geschlechterrollen formt und reproduziert. Für Mädchen gibt es Parfüm zum selber machen, Barbies und Spielzeugpuppen mit rosa Kleidchen und utopisch dünnen Beinen. Für Jungs schnittige Rennfahrzeuge, kleine Spielzeugmotoren zum selber tüfteln und strategische Kriegsspiele. Die Rollen sind schon für Kinder klar verteilt. Da ist es kaum verwunderlich, dass geschlechtsspezifische Stereotype auch in der Welt der Erwachsenen fortgeführt werden, sei es auf dem Arbeitsmarkt oder in den privaten Haushalten. Wissenschaftler*innen weltweit erkennen in diesem Zusammenhang einen technologischen Determinismus und fordern einen neutralen Rekurs in Bezug auf technologische Entwicklungen, angefangen bei der Entwicklung von Video­spielen, wo Frauen mit übergroßen Brüsten und gesundheitlich bedenklich schmaler Taille körperspezifische Stereotype reproduzieren, bis hin zu Künstlichen Intelligenzen und Haushaltsrobotern, die, wie sollte es anders sein, mit überwiegend femininen Merkmalen sowie Stimmen auftreten. Ein interessantes Werk hierzu ist übrigens das „Cyborg Manifesto“ der US-amerikanischen Biologin und Wissenschaftstheoretikerin Donna J. Haraway, in dem sie einen Blick auf das Potenzial und die Gefahren technischer Entwicklungen in Hinblick auf Körper und Geschlecht wirft.
Ach, das wird doch alles nicht so tragisch sein! Falsch gedacht, denn Kognitionswissenschaftler*innen geben seit geraumer Zeit zu bedenken, dass Stereotype aktiv die Performance beeinflussen. Sogenannte „Stereotype Threats“ sind mitunter dafür verantwortlich, dass Mädchen bis heute durch Film, Fernsehen und Umwelt das Bild vermittelt bekommen, nicht ausreichend geeignet für Naturwissenschaften oder Mathematik zu sein und es genau diese permanent reproduzierte Annahme ist, die die Performance von Schülerinnen in naturwissenschaftlichen Fächern vermindert.

Gender in der Medizin
Es hat in der Medizin eine lange Tradition, den (cis-)männlichen Körper als Norm zu betrachten. In dem Werk „Complaints & Disorders – The Sexual Politics of Sickness“ von Barbara Ehrenreich und Deirdre English aus den 1970er Jahren, stellen die Autor*innen fest, dass insbesondere die Medizin des 19. Jahrhunderts von sozialen und moralischen Vorstellungen beeinflusst wurde.So galten Krankheiten im Allgemeinen als feminin und führten sogar zu einer dramatischen Romantisierung der kranken Frau, die durch schickliche Nervenzusammenbrüche und Schwächeanfälle zum Ausdruck kam.
Auch der Ausschluss von Frauen aus der Bildungs- und Arbeitswelt wurde durch Mediziner begründet, die behaupteten, dass eine zu hohe Inanspruchnahme des weiblichen Gehirns, beispielsweise durch höhere Bildung, negative Einflüsse auf den Uterus und die Gebärfähigkeit habe.
Heute ist es die Medizin, die das soziale und moralische Verhalten beeinflusst und der eine Art modernes Urvertrauen entgegengebracht wird, basiert sie doch auf Rationalität und reinen Fakten. Aber auf welchem Weg gewinnen Wissenschaft und Medizin ihre Erkenntnisse über den menschlichen Körper und die Geschlechter?
Wie bereits zu Anfang erwähnt, ist es der (cis-)männliche Körper, der in medizinischer Hinsicht als Norm betrachtet wird. Alle Abweichungen davon werden als atypisch innerhalb der Medizin ignoriert. Abgesehen von Geschlechtsmerkmalen wird auf weitere Unterschiede innerhalb der Geschlechter also kaum eingegangen, da sie in der medizinischen Forschung noch immer dramatisch unterrepräsentiert sind. Menschen, die weder der weiblichen noch männlichen Norm entsprechen, werden in Entwicklungsverfahren vollkommen ignoriert und als Behinderung und/oder Krankheit beiseite geschoben. Dieses Handeln im wissenschaftlichen Kontext führt dazu, dass Frauen – ursprünglich zum Schutz von möglicherweise Schwangeren – in der Regel nicht Teil des Testprozesses für neue Behandlungsweisen und Medikamente werden. Diese werden stattdessen mehrheitlich an männlichen Tieren und später männlichen Probanden getestet. Zusätzlich wird dieses Vorgehen durch Hormonschwankungen begründet, die Tests an Frauen angeblich erschweren sollen, da die Ergebnisse unterschiedlich ausfallen können. Dass diese Hormonschwankungen innerhalb des weiblichen Körpers natürlich auch die Wirkungsweise eines Medikaments beeinflussen können, wird dabei ausgeklammert und Durchschnittswerte von männlichen Probanden ohne Zwischenschritt auf den weiblichen Körper übertragen. Und das mit teils dramatischen Folgen, denn Männer und Frauen unterscheiden sich in „Prädisposition, Inzidenz, Entstehung, Symptomatologie, Entwicklung und Behandlungschancen vieler Krankheiten“ (Gadebusch Bondio, S. 12) maßgeblich. Durch diese Diskrepanz sind nicht nur viele Medikamente unzureichend für Frauen erprobt, auch Diagnosen fallen falsch aus und können im schlimmsten Fall zum Tod führen.
Wussten Sie, dass sich ein Herzinfarkt bei Frauen nicht zwangsläufig durch Schmerzen in der Brust oder dem linken Arm äußert? Und dass Frauen über 60 häufiger an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung sterben als an Brustkrebs? Denn was oft als Männerkrankheit betitelt wird, basiert lediglich auf unzureichender Forschung und mangelnder Aufklärung, die das Leben von Frauen direkt bedroht.
Frauen, die von einem Herzinfarkt betroffen sind, klagen über Schmerzen im Oberbauch, Übelkeit, Rücken- und Nackenschmerzen sowie Schmerzen im Kiefer- oder Halsbereich. Durch mangelnde Aufklärung gehen betroffene Frauen meist viel zu spät in die Notfallaufnahme und auch Ärzte registrieren die Symptome noch immer viel zu häufig nicht als Notfall. In Deutschland müssen jedes Jahr knapp 222.600 Frauen und fast doppelt so viele Männer aufgrund einer sogenannten ischämischen Herzkrankheit stationär behandelt werden. Und obwohl die Zahl der betroffenen Frauen niedriger ist, sterben noch immer mehr Frauen als Männer an den Folgen eines Herzinfarkts, nämlich 43 Prozent gegenüber 37 Prozent.
Genderforschende in der Medizin versuchen diese Probleme zu beheben, indem sie in der Forschung konkret auf das Geschlecht der erkrankten Person eingehen. Wissenschaftler*innen fordern eine ausgewogene Repräsentation weiblicher und männlicher Probanden in der Medikamentenforschung und die Aufhebung der Norm „Mann“, um Frauen besser vor Erkrankungen, medikamentösen Nebenwirkungen und sogar dem Tod durch Spätfolgen schützen zu können.
Kritisch zu betrachten ist hierbei die rein biologische Untersuchungsweise der Gendermedizin. Innerhalb der Forschung dieser Disziplin werden ausschließlich biologische Unterschiede und Merkmale zwischen Mann und Frau untersucht, soziale Einflüsse werden dagegen vollkommen ignoriert. Somit fallen das soziale Geschlecht und die dramatischen Auswirkungen von kulturellen, historischen und gesellschaftlichen Normzwängen weg. Die soziale Konstruktion von Geschlecht, auferlegt durch kulturelle Normen und reproduziert durch soziale und gesellschaftliche Mechanismen, gilt in den Gender Studies als wegweisendes Fundament moderner Theorien und kann in den Naturwissenschaften neue Erkenntnisse liefern, besonders in Hinblick auf eine ausgewogene Gesundheitspolitik.
Stigmatisierende Rollenbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit wirken sich direkt auf die Handlungsmacht, das Auftreten und die Gesundheit weiblicher, männlicher und diverser Personen aus. Mit Sätzen wie „Echte Männer kennen keinen Schmerz“, „Sei kein Weichei“ oder die Verlagerung der Verhütungsvorsorge auf die Frau, nimmt die Rollenverteilung der Geschlechter aktiven Einfluss auf die Gesundheit der Betroffenen.
Dies wirkt sich zum Beispiel auch auf die Inanspruchnahme von Vorsorgeangeboten aus. Während Frauen regelmäßige Besuche beim Gynäkologen ausdrücklich empfohlen werden, unterliegt der Gang zum Urologen für den Mann noch immer einer gesellschaftlichen Tabuisierung. Noch immer vollkommen ausgeklammert werden beispielsweise Transpersonen oder nicht-binäre Menschen, die aus dem Raster des vorherrschenden Mann-Frau-Bildes fallen und auch in der Gendermedizin nicht ausreichend repräsentiert sind.
Eine zeitgemäße Erweiterung der Gendermedizin könnte eine Form der individualisierten Medizin sein. Hierbei arbeiten Forscher*innen an maßgeschneiderten Präventionsprogrammen und Behandlungsmöglichkeiten, die die Bedürfnisse des Individuums verfolgen und nicht nur mit Durchschnittswerten, männlicher oder weiblicher Natur, arbeiten.

Quellen:
Mariacarla Gadebusch Bondio, Elpiniki Katsari, „Gender-Medizin: Krankheit und Geschlecht in Zeiten der individualisierten Medizin“, transcript Verlag, 2014
Barbara Ehrenreich, Deirdre English, „Complaints & Disorders – The Sexual Politics of Sickness“,2. Auflage, The Feminist Press at CUNY, 2011

Bildquellen

  • In der Vergangenheit wurde Lego des Öfteren wegen sexistischem Marketing kritisiert: Foto: promo
  • Ein Foto der Frauen, die für das Projekt „Carte du Ciel“ Bilder der Himmelskörper sammelten: Foto: Vatican Observatory