Im Gespräch: Karl-Heinz Ott, Schriftsteller, Aufklärung und Moderne im Fadenkreuz rechter Gedankenmodelle

Im Großen und Ganzen galt bisher als weitgehendunstrittig: Die Aufklärung hat geistesgeschichtlich das finstere Mittelalter abgelöst und zumindest für die Menschen der westlichen Hemisphäre einen Weg in die Moderne als einem Reich der geistigen Freiheit, der Menschenrechte und der allseitigen Entwicklung von Wissenschaft, Technik, wirtschaftlichem Wohlstand und demokratischer Willensbildung gebahnt. Karl-Heinz Ott zeigt im Kultur Joker-Gespräch mit Erich Krieger, dass die reaktionäre Anti-Moderne und die ihr zugrunde liegenden Gedankenmodelle als erbitterte ideologische Gegenpole so alt sind wie die Moderne selbst und bis heute einen fruchtbaren Nährboden für ein aktuelles Roll-back autoritärer Staatsmodelle bilden.

Kultur Joker: Herr Ott, sind die Errungenschaften der Aufklärung in Gefahr?

Karl-Heinz Ott: Ich möchte vorausschicken: Wenn wir von Aufklärung sprechen, meinen wir im Allgemeinen das 18. Jahrhundert:Voltaire als berühmtesten Namen, die Enzyklopädie, die Französische Revolution mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Alle Menschen sind gleich, Universalismus soll weltweit gelten. Wir wissen, dass es an diesen Errungenschaften schon immer Kritik gegeben hat. Mir kommt es mit meinem Buch aber darauf an zu zeigen, dass es auch schon viel früher eine Kritik an der gesamten Neuzeit seit deren Anfängen gab und die Aufklärung nur eine Folge dessen ist, was schon zwei bis drei Jahrhunderte vorher im Schwange war. Da war Martin Luther. Er hat den großen Einheitsapparat der katholischen Kirche zerschlagen und damit war eigentlich in gewisser Weise das Mittelalter schon zu Ende. Auf ihn folgte Descartes mit seinem alles in Frage stellenden systematischen Zweifel. Er fragte sich, wie man denn wissen könne, ob die mit großer Autorität durchgesetzten Begriffskathedralen von Gott, dem Staat und der Welt überhaupt in sich stimmig sind oder ob da nur berühmte Namen wie Platon, Aristoteles oder Thomas von Aquin dranhängen. Er sieht als einzig in Frage kommendes Mittel der Entscheidung die Vernunft eines jeden Menschen. Dies korrespondiert mit Luther, der den christlichen Glauben vorher zur individuellen Gewissenssache deklariert hatte und nicht als Gehorsamsdienst gegenüber der kirchlichen Macht. Ein Übriges leistete die Staatstheorie von Thomas Hobbes nicht zuletzt unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Kriegs.Der Staat müsse zwar stark sein, aber er darf nicht mehr im Namen Gottes geführt werden, denn er muss verhindern, dass weiterhin Religionskriege große Teile Europas verwüsten. Folglich muss innerhalb des Staates Glaubensfreiheit herrschen und Hobbes ist somit der erste, der Religion zur Privatsache erklärt. All diese Dinge führen zwar hin zur Aufklärung, sind aber noch viel grundsätzlicher. Deshalb auch der Buchtitel „Verfluchte Neuzeit“, denn die rechten Theorien richten sich nicht nur gegen die „Voltaires“, sondern gegen die gesamte Neuzeit.

Kultur Joker: Sie untersuchen in ihrem Buch akribisch die theoretischen Fundamente einiger so unterschiedlicher Philosophen und Autoren wie Leo Strauss, Carl Schmitt, Martin Heidegger, aber auch Michel Foucault oder Walter Benjamin. Was eint diese und noch weitere ungleichen Brüder in ihrer erbitterten Ablehnung der Moderne?

Karl-Heinz Ott: Es ist bei allen der Genannten übereinstimmend eine Radikalkritik an der gesamten Neuzeit. Sie halten das Projekt der Neuzeit für verloren und für verrottet, weil sie eine Gesellschaft von lauter Vereinzelten produziert, die keinen anderen Geist und keinen anderen Sinn mehr kennt, als produzieren, arbeiten und konsumieren. Da ist ja durchaus etwas dran, das ist ja auch unsere heutige Kritik an einem entfesselten Kapitalismus, der natürlich keine soliden Bindungen zwischen den Menschen schafft. Aber die kommunistische und erst recht die nationalsozialistische Variante hat versucht den Gemeinsinn sozu oktroyieren, dass die Freiheit auf der Strecke blieb. Es geht den Anti-Modernen immer um die gleiche Figur der Fundamentalkritik: Der Einzelne ist verloren, es fehlt Sinn, es fehlt Gott, es fehlt Transzendenz, es fehlt Ordnung und ohne das alles kann der Mensch nicht existieren. Das ist im weitesten Sinn vielleicht gar nicht so falsch, nur wenn wir jetzt wieder versuchten, Sinn von oben zu bestimmen, dann bekämen wir das, was wir ewig lang mit der Kirche hatten mit allen Verfolgungsmechanismen und mit allem Wahrheitsterror und mit aller Ausgrenzung. Also ist die Frage: Will man das wieder? Foucault und Walter Benjamin würden dies sicher verneinen, aber was dann? Man muss dabei bedenken, dass Carl Schmitt und Martin Heidegger offen antidemokratisch und als Unterstützer des Faschismus aufgetreten sind und der Jude Leo Strauss das Nazi-Regime ohne Antisemitismus als ideale Staatsform bezeichnet hat. Foucault ist eher als Gauchiste zu bezeichnen, aber was allen gemeinsam ist und da gibt es auch Linien zu Walter Benjamin, dass sie alle in der Neuzeit die Atomisierung der Gesellschaft entdecken. Auch da könnte man vielleicht noch mitgehen, aber was ist die Alternative, wenn ich stattdessen das Subjekt abgeschafft habe?Wenn ich die Rede von der neuzeitlichen Freiheit nur als Form eines neuen Unterdrückungsdiskurses verachte, fängt man eben wie Foucault irgendwann an, von der wahren Gesellschaft der Mullahs zu schwärmen, oder wie Heidegger vom japanischen Schweigen oder dass man so eine Sprache bräuchte wie Artaud und Hölderlin, wie Benjamin meint.

Kultur Joker: Auffallend ist auch, dass viele dieser Neuzeitkritiker eine besondere Vorliebe für Platon und insbesondere für seine antike Staatstheorie hegen.

Karl-Heinz Ott: So ist es. Alle ordnungsliebenden Bestrebungen fanden immer schon großen Gefallen an Platons Staat. Das ist ein sehr soldatisches Gebilde, in dem alles geregelt ist bis hin zur Musik. Weichliche Musik darf es nicht geben, denn sie verweichlicht eben. Er darf nur mannhafte Musik geben, die zur Tapferkeit animiert. Deshalb taten die Menaden recht, als sie Orpheus zerfetzten und auffraßen. Platon hielt ihn wohl für einen verweichlichten Lyra- oder Klampfensänger. Leo Strauss hält zum Beispiel den Glauben an die Freiheit des Menschen für ein Grundübel, weil er unter Berufung auf Platon sagt: Es gibt drei Grundgattungen des Menschen. Da gibt es zum einen die große Masse der einfachen Leute, die auch im Kopf einfach sind, dann die Beamten und die Soldaten, die als Mittelschicht das ganze Staatssystem am Laufen halten und es gibt die Führungsschicht und die kann eigentlich nur aus ganz wenigen rekrutiert werden. Diese Elite muss von Anfang an die Ausbildung zum Regieren erhalten und es sind die einzigen, die das dann auch können. Freiheit hat da nichts zu suchen, denn die Masse besteht aus Krethi und Plethi, die nur an ihre unmittelbaren Interessen denken und keinen Blick fürs Ganze haben. Strauss übernimmt dieses Staatsmodell eins zu eins. Hinzu kommt noch die Theorie, dass Philosophen, die diese Staatslenker beraten, die Wahrheit nicht laut sagen dürfen. Sie hätten eine esoterische und eine exoterische Lehre zu verkünden: Die eine für die wenigen Kundigen, die andere für die Allgemeinheit, die dann alle verstehen können. Noch eine andere Theorie übernimmt Strauss aus Platons Staat: Politiker müssen lügen, die „noble Lüge“ benutzen, weil das Volk die Wahrheit nicht verstehen oder vertragen kann und dann rebellieren wird – und das gelte es ja zu verhindern. Der Name Strauss wurde in diesem Zusammenhang bei uns medial erstmals bei uns bekannt, als George W. Bush jun. in den Irak einmarschiert ist mit der Begründung, dass dort Al Quaida sitze und Massenvernichtungswaffen produziere, was sich ja als glatte Lüge erwies. All diese Lehren gehen auf Leo Strauss zurück, der sie auch lautstark verbreitete und haben erzkonservative Politikerkreise am ultrarechten Rand munitioniert. Da gibt es auch direkte Linien bis zu den heutigen Think Tanks, die in den USA ja sehr stark und einflussreich sind.

Kultur Joker: Hier sind wir wieder bei der Rolle der Philosophen, die ja auch bei Platon eine entscheidende Rolle spielen. Wie definiert Strauss deren Aufgabe?

Karl-Heinz Ott: Bei Platon sollen ja die Philosophen, die großen Denker selbst zu Staatslenkern werden, weil er ernsthaft glaubt, diese hätten keine eigenen Interessen und dächten stets nur ans Allgemeine, ans Ganze und ans Gerechte, als ob Philosophen keine eigenen Triebe hätten und nicht auch nach eigenen Vorteilen streben könnten. Strauss sagt das nicht, bei ihm müssen die Philosophen nicht selbst zum Beispiel im Weißen Haus sitzen. Aber sie müssen die engsten Berater sein, sprich: Sie flüstern ein, was der Herrscher machen muss. Nebenbei: Eine etwas kuriose Vorstellung, als hätten die Trumps und Putins niemand lieber neben sich sitzen als Philosophen, die ihnen sagen, was sie zu tun hätten. Aber in den USA gibt es eine große Zahl von Straussianer-Kreisen, die sich als Elite verstehen, die gegen die verrotteten Umtriebe unserer Zeit vorgehen muss und in Pool-Zirkeln an Universitäten und in der Politik Maulwurfsarbeit betreiben.

Kultur Joker: Wie funktioniert sowas? Die reaktionären Denker kommen ja in der Regel, egal wie rechts sie auch sein mögen, einigermaßen distinguiert daher und treffen dann auf Leute wie Trump, Urban, Lukaschenko oder auch die Mullahs. Das muss sich doch irgendwo auch beißen.

Karl-Heinz Ott: (lacht) Da gibt es heute in den USA viele Beispiele, die sich natürlich selbst für tausendmal intelligenter, intellektueller und edler halten als so einen Mann wie Trump. Leo Strauss wäre vermutlich von ihm angewidert gewesen. Aber es gab während des letzten Wahlkampfs eine große Zahl von evangelikalischen Pfarrern, die in Interviews zwar zum Menschen Trump auf Distanz gingen, aber oft von einem „Werkzeug Gottes“ gegen den libertären Individualismus sprachen im Sinne von „auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil“. So denkt auch William Barr, ein in den USA berühmter Jura-Professor, der lange eng mit Trump zusammengearbeitet und bei allen Rechtsbrüchen als sein Justizminister bis zuletzt zu ihm gehalten hat.Heute vertritt er in öffentlichen Reden unter Berufung auf die Gründerväter der USA die Theorie, dass dem amerikanischen Präsidenten absolute Macht zukommen müsse und weder Richter noch Senat oder Kongress ihn dabei einschränken dürften. Dies sei von jenen so gedacht gewesen, denn sonst könne der Präsident nicht richtig regieren. Vor diesem Hintergrund definiert Barr die Demokraten als Staatsfeinde und wirft ihnen eine „Resistance-Politik“ vor. Barr ist strenger Katholik und seine Denkweise – er hat es zwar so nie geäußert – diese Denkweise grenzt schon sehr stark an die Auffassung vom Werkzeug Gottes.

Kultur Joker: Eine weitere Gemeinsamkeit unter den reaktionären Denkern ist die Überzeugung von der Notwendigkeit einer allerhöchsten, allmächtigen Instanz – bei Heidegger ist es das Seyn mit Ypsilon, bei anderen die Renaissance des christlichen Gottes – die noch über dem stehen muss, was in einem autoritären Staat ausgedrückt werden muss.

Karl-Heinz Ott: Da sind wir bei der zentralen Argumentation von Carl Schmitt. Er legt Hobbes Staatstheorie so aus, dass der Staat nur zusammengehalten werden kann durch eine absolut souveräne Gestalt ganz oben, egal, ob die nun vernünftig ist oder nicht, also ein gottgleicher Führer. Wichtig ist nur, dass es eine singuläre Instanz ist. Bei Schmitt führt dies ja deshalb direkt zu Hitler und er schwärmte auch für Mao Tse Tung. Strauss setzt etwas anders aus strategischen Gründen auf die Religion, denn die Masse kann nicht denken und braucht diese Instanz, denn sonst gehorcht sie nicht. Dass ein Leben, das aus Diskutieren und Debattieren besteht, funktionieren könnte im Staat, ist für alle undenkbar.

Kultur Joker: Das ist doch aber, abgesehen von allem andern, sehr schlicht gedacht.

Karl-Heinz Ott: Zweifellos. Aber trotzdem wird zum Beispiel Carl Schmitt auch von Leuten, die ihm nicht nahestehen, für die Klarheit seines Denkens, für seine eindeutigen Definitionen, für seine Kategorien bewundert. Aber ob diese Schemata wirklich klug sind, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Kultur Joker: Herr Ott, wir danken für dieses Gespräch und wünschen ihrem Buch viel Erfolg!

Das Buch „Verfluchte Neuzeit“ erscheint am 14. März 2022 im Carl Hanser Verlag. Schon einen Tag später wird es in einer Veranstaltung des Buchladens in der Rainhof Scheune, Kirchzarten, Höllentalstraße 96 vom Autor selbst vorgestellt. Dienstag, 15.03.2022, Beginn 19.30 Uhr, Reservierung erforderlich. Per E-Mail info@buchladen-rainhof.de oder telefonisch: 07661 988 09 21
Weitere Infos: www.rainhof.buchhandlung.de

Bildquellen

  • Karl-Heinz Ott, Schriftsteller: Foto: Elisabeth Jockers