Im Gespräch: Die NS-Forscher*innen Brigitte und Gerhard Brändle

Für die Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit im Südwesten Deutschlands ist die Beschäftigung mit den jüdischen Menschen, die im Zuge der „Wagner-Bürckel-Aktion“ am 22. Oktober 1940 aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in das besetzte Frankreich verschleppt und schließlich im Lager Gurs interniert wurden, ein zentrales Thema. In diesen Zusammenhang gehört auch die NS-Gewaltherrschaft im annektierten Elsass-Lothringen, die sich u.a. an den Vertreibungen jüdischer und frankophiler Bevölkerungsteile sowie der Errichtung des KZ Natzweiler-Struthof erweist. Während der „Oktoberdeportation“ verschleppten die Nazis ca. 6.500 jüdische Personen aus Südwestdeutschland, darunter 563 Kinder und Jugendliche. Brigitte und Gerhard Brändle haben deren Schicksale in jahrelanger Arbeit erforscht und zeigen mit der Dokumentation „Gerettete und Ihre Retter*innen“, dass 417 von ihnen überleben konnten. Damit bestätigen sie auf regionaler Ebene die Forschungsergebnisse von Serge Klarsfeld und anderen Historikern die ergeben, dass Dreiviertel der etwa 320.000 jüdischen Menschen, die sich 1940 im Frankreich aufhielten und vorwiegend von ihren ausländischen Herkunftsländern staatenlos gemacht worden waren, dem NS-Terror entkamen, darunter die Mehrzahl der Kinder. Wie gelang dieses Rettungswerk, das hierzulande wenig beachtet wird? Unsere Mitarbeiterin Cornelia Frenkel hat die Autoren befragt.

Kultur Joker: Seit Jahr und Tag wird immer wieder klischeehaft und ohne Differenzierung das Narrativ wiederholt, auch auf Gedenktafeln in Freiburg, „die meisten“ der im Oktober 1940 Verschleppten seien ermordet worden. Mit Ihrer Studie „Gerettete und Ihre Retter*innen“ aber weisen Sie auf andere historische Zusammenhänge?

Brigitte und Gerhard Brändle: Wir beschäftigen uns seit 1980 mit dem Thema „Gurs“ und stellten damals für Pforzheim fest, dass die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen gerettet werden konnten; seither haben wir kontinuierlich die Schicksale der im Oktober 1940 nach Frankreich Verschleppten erforscht, Rettungsaktionen aufgezeigt, die aus dem Lager Gurs hinausführten und diese belegt, mit den Biografien der Kinder sowie ihrer RetterInnen bzw. der verantwortlichen Organisationen.

Kultur Joker: An den dokumentierten 563 Biografien wird auch deutlich, wie sich die Situation in Frankreich seit dem Waffenstillstand im Juni 1940 entwickelte, mit dem sich die Vichy-Regierung zur „Zusammenarbeit“ verpflichtet hatte. Gegen das Kollaborations-Regime formierte sich rasch eine vielfältige Opposition in der französischen Zivilgesellschaft, im Verwaltungsapparat sowie im Exil in London. Wie machte sich das im Lager Gurs bemerkbar?

BG Brändle: Was die Menschen dort ab Ende Oktober 1940 betrifft, sind zuerst die Bemühungen von Hilfsorganisationen – unterstützt von der Lagerleitung – zu nennen, die Lebensmittel und Medikamente beschafften. Anfang 1941 konnten NGO’s wie die protestantische Frauenorganisation CIMADE, die Quäker, das Schweizerische Rote Kreuz und das jüdische Kinderhilfswerk OSE mit Einverständnis des Präfekten Kinder aus dem Lager herausholen und in Heimen unterbringen. Gleiches gilt für ältere Menschen, die in kleineren Lagern wie Noé besser versorgt werden. Das von den Internierten initiierte Kulturleben im Lager wird von der Lagerleitung unterstützt, ebenso deren Bemühungen nach Übersee „auszureisen“: Die jüdische Auswanderungs-Organisation HICEM kann im Lager eine Beratungsstelle eröffnen, um die bürokratischen Abläufe zu beschleunigen. So können über 100 „unserer“ Kinder mithilfe der Quäker in die USA entkommen. Dass im Sommer 1942 überhaupt noch viele staatenlose jüdische Menschen in Frankreich sind, liegt nicht an der Vichy-Regierung, die weiterhin Ausreisevisa ausstellte, obwohl die deutschen Besatzer eine Schließung der Grenzen verlangten. Vielmehr mangelte es bereits seit 1938 an Aufnahme-Staaten, die USA und Großbritannien etwa erließen zunehmend restriktive Verordnungen zur Visa-Erteilung und es fehlten Transportkapazitäten aus Frankreich heraus. Tausende jüdischer Menschen sitzen so im Sommer 1942 in Auswanderer-Lagern wie Les Milles oder in Marseille fest und werden Opfer von Razzien.

Kultur Joker: Eine angemessene und redliche Auseinandersetzung mit Frankreich unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg kann sich nicht auf die Shoah und die verbrecherische Komplizenschaft des Vichy-Regimes mit der Nazi-Besatzungsmacht beschränken. Es gab – so Serge Karlsfeld – ab 1940 zwei Frankreich: Was beschreibt er damit?

BG Brändle: Bei der ersten großen Razzia in Paris im Juli 1942 stehen 23.000 jüdische Menschen auf den Listen, aber über 10.000 von ihnen sind einfach nicht da, als es an der Wohnungstür klingelt; sie wurden etwa von Polizisten gewarnt und von Nachbarn versteckt. Ähnliches geschieht in den Heimen, aus denen „unsere“ Kinder abgeholt werden sollten: Die Rettungshelfer*innen erhielten Hinweise von Bürgermeistern und Dorfpolizisten, sodass man die Kinder etwa im Wald verstecken konnte oder bei Bauersleuten in der Gegend; dazu gehörte auch, dass sie mit richtigen „falschen“ Papieren, mit neuen Namen und erfundenen Biographien ausgestattet wurden. Wir haben etliche Pass-Fälscher*innen ausfindig gemacht, darunter Lehrerinnen, die in Rathäusern Zugang zu Formularen für Ausweise und Lebensmittelkarten hatten. Der Historiker Jacques Semelin spricht in diesem Zusammenhang von einem Lehrstück an „zivilem Ungehorsam“.

Kultur Joker: Wie Léon Poliakov, Serge Klarsfeld, Arno Lustiger, Ahlrich Meyer, Wolfgang Seibel, Jacques Semelin u.a. aufgezeigt haben, wurden ein Viertel der 320.000 jüdischen Menschen, die sich in Frankreich aufhielten, Opfer der Shoah; Dreiviertel konnten den NS-Terror überstehen. Dies ist – Dänemark ausgenommen (wo aber nur etwa 8.000 Juden lebten) – der höchste Anteil in den von den Nazis beherrschten Ländern in Europa. Vermutlich waren dazu weit mehr Retter*innen notwendig, als die von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem Geehrten?

BG Brändle: Wichtig war hier der starke Einfluss auf die öffentliche Meinung, der von Kardinälen und Bischöfen wie Pierre Gerlier, Jules Saliège und Pierre-Marie Théas ausging, die im Sommer 1942 gegen die Jagd auf jüdische Menschen protestierten und entsprechende Hirtenbriefe von den Kanzeln und über BBC verlesen ließen. Kirchliche Einrichtungen öffneten ihre Türen und stellen Überlebens-Mittel wie Geld und Ausweise bereit. Für die Hilfsorganisationen sind die Razzien im Sommer 1942 ein Wendepunkt. Madeleine Barot, Leiterin des CIMADE, sagte: „Je mehr sich die Lage verschlechterte, desto weniger konnten wir die Legalität respektieren“. Die Frage, wieviel Menschen in Rettungs-Netzwerken aktiv waren, lässt sich nur ansatzweise beantworten: Arno Lustiger, der den Begriff „Rettungswiderstand“ geprägt hat, nennt „stellvertretend für viele andere“ 45 Namen. Von Yad Vashem wurden für Frankreich über 4.100 „Gerechte unter den Völkern“ geehrt; dabei sind jüdische Retter*innen nicht inbegriffen, die nach unserer Kenntnis fast 40 % der Beteiligten ausmachten. Im Département Haute-Savoie z.B. gibt es 78 „Gerechte“, eine regionale Studie nennt aber rund 250 Personen, die an Rettungsaktionen in Richtung Schweiz beteiligt waren.

Kultur Joker: Die „Endlösung der Judenfrage“ war von den Nazis auch für Frankreich geplant; jedoch haben Zivilgesellschaft, politische Organisationen und Kirchen dazu beigetragen Eichmanns Deportationspläne zu bremsen. Überzeugte Kollaborateure wie die „Milice française“ konnten keine Massenbasis erlangen. Wie zeigte sich dies bezüglich der Kinder und Jugendlichen?

BG Brändle: Gegen die Absicht der Nazis, ihre Mord-Pläne in Frankreich durchzusetzen, entwickelten verschiedene Gruppierungen Netzwerke: Katholische Priester und protestantische Pastoren bildeten die Amitié Chrétienne, die mit der protestantischen CIMADE, der jüdischen OSE und dem kommunistisch geprägten MNCR (Mouvement Nationale Contre le Racisme) kooperierte: Über 1.200 Kinder verschwinden durch das MNCR in Haushalten, weitere 1.100 durch die UGIF (Generalunion der Juden Frankreichs) und bis zu 10.000 durch jüdische Organisationen. Ca. 1.300 Kinder werden in die Schweiz und rund 600 nach Spanien geschleust, hauptsächlich von jungen Menschen der jüdischen Pfadfinder*innen EIF, der zionistischen Jugendbewegung MJS oder der Armée Juive. Von „unseren“ Kindern überleben 200 in Frankreich, rund 100 gelangten in die USA und weitere 100 werden in die Schweiz geschleust – Zahl und Namen der „Passeure“ direkt an der Grenze werden leider unbekannt bleiben.

Kultur Joker: Im April 2021 hat die „Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz“ (GHWK) in Berlin eine Wander-Ausstellung mit dem Titel „Gurs 1940. Die Deportation und Ermordung von südwestdeutschen Jüdinnen und Juden“ auf Reisen geschickt. Diese wird den historischen Zusammenhängen nicht gerecht, so werden etwa „die meisten“ der über 560 Kinder für ermordet erklärt, das Überleben von Juden in Frankreich ausgeblendet, die „Wagner-Bürckel-Aktion“, beginnend im Juni 1940 mit Vertreibungen im de-facto annektierten Elsass-Lothringen, mit unrichtigen Zahlen abgetan, usw. Stattdessen wird einseitig die Vichy-Kollaboration angeprangert, die Hauptakteure der deutschen Besatzung aber kaum erwähnt. Doch wer hat die Deportationen organisiert?

BG Brändle: Mehrfach heißt es in der Ausstellung der GHWK über die Deportationen ab Sommer 1942 von Drancy in die Mordfabriken im Osten im Passiv: „… sie wurden deportiert“, mitunter ist auch von „den zuständigen Behörden“ die Rede. Solche Formulierungen sind mehr Schuldzuweisungen als wissenschaftliche Belege. Die Rolle der Wehrmacht fehlt; diese aber organisierte das „rollende Material“, d.h. Lokomotiven und Güterwagons für die Deportationen, sie hatte im Lager Drancy die Befehlsgewalt, alle Transporte von Drancy aus werden von Einheiten der Feldpolizei der Wehrmacht befehligt und überwacht. Wir können für alle „unsere“ Kinder, die in den Mordfabriken umgebracht wurden, die Beteiligten benennen. In der Ausstellung der GHWK fehlt zudem das „Judenreferat“ der Gestapo sowie die politische Verantwortung von Otto Abetz, deutscher Botschafter in Paris (ehemals Lehrer in Karlsruhe), der Verfolgung, Deportation und Ermordung jüdischer Menschen forcierte; am 2.7.1942 spricht er von der „Freimachung der europäischen Länder vom Judentum“. Er wird zwar 1949 in Frankreich zu 20 Jahren Haft verurteilt, ist aber auf Drängen der Bundesregierung bereits 1954 wieder auf freiem Fuß.

Kultur Joker: Die Ereignisse liegen über 80 Jahre zurück und erweisen sich immer wieder als heißes Eisen. Warum befassen Sie sich damit?

BG Brändle: Einmal um festzuhalten, wer für die Verbrechen verantwortlich war und wie sie abliefen; und vor allem, um historisch zu überliefern, wer versucht hat, „dem Rad in die Speichen zu fallen“ – so die Formulierung von Dietrich Bonhoeffer. Zudem gilt es, von den Retter*innen – sie waren in der Mehrzahl weiblich – auch für heute zu lernen, z.B. wenn es um die Kinder an den EU-Außengrenzen geht, auf der Flucht vor Verfolgung, Krieg und zerstörten Lebensgrundlagen, eingepfercht in inhumanen Lagern, ohne den Schutz der UN-Kinderrechtskonvention, die uns auffordert, für sichere Fluchtwege und Einreisemöglichkeiten in die EU zu sorgen. Deswegen unterstützen wir auch die „Aktion Seebrücke“, in der Menschen – unterschiedlicher politischer, weltanschaulicher oder religiöser Herkunft – zusammenarbeiten. Wir kämpfen dagegen, dass Flüchtende nach Herkunft, Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit sortiert werden – denn es geht um Menschenrechte für alle Schutzsuchenden.

Kultur Joker: Wir bedanken uns für die Erläuterung Ihrer Forschungsarbeit. Zudem sind wir auf Ihren Vortrag am 6. Juli um 19.30 Uhr im Literaturhaus Freiburg gespannt.

● Gerettete und Ihre Retter*innen. Jüdische Kinder im Lager Gurs. Fluchthilfe tut not – eine notwendige Erinnerung nach 80 Jahren“. Brigitte und Gerhard Brändle in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Religionsgemeinschaft Karlsruhe (IRG). 204 S. Die Dokumentation ist als PDF (www.irg-baden.de) oder gedruckt zu beziehen: info@irg-baden.de

Weiterführende Literatur in Auswahl
• Klarsfeld, Serge. Vichy-Auschwitz. La „solution finale“ de la question juive en France. Paris 1983
• Laharie, Claude. Le Camp de Gurs 1939-1945. Un aspect méconnu de l’histoire de Vichy. Pau 1993
• Meyer, Ahlrich. Täter im Verhör. „Die Endlösung der Judenfrage in Frankreich 1940-1944“. 2005
• Semelin, Jacques. Das Überleben von Juden in Frankreich 1940-1944. Vorwort Serge Klarsfeld. 2018
• ders. „Une énigme française. Pourquoi les trois quarts des Juifs en France n’ont pas été déportés“. Paris 2022
• Teschner, Gerhard J. Die Deportation der badischen und saarpfälzischen Juden am 22. Oktober 1940. Vorgeschichte und Durchführung der Deportation und das weitere Schicksal der Deportierten. Ffm 2002

Bildquellen

  • Brigitte und Gerhard Brändle an der Stele zur Erinnerung an die Deportation jüdischer Menschen aus Karlsruhe am 22.10.1940: Foto: Rake Hora Karlsruhe