Geschichten vom Jazz

Im Gespräch: Paul Kuhn, der singende Mann am Klavier

Paul Kuhn

Gesichter erzählen Geschichten. Dass Paul Kuhn alle Höhen und Tiefen eines Künstlerdaseins erlebt hat – davon berichten markante Falten und die wohl weit und breit größten Tränensäcke. Der singende Mann am Klavier wurde am 12. März 85 Jahre alt. Seit über sechs Dekaden ist er mit gleich bleibendem Elan im Einsatz, hat wie kaum ein anderer die deutsche Jazz- und gehobene Unterhaltungsmusik geprägt. Olaf Neumann traf auf einen, der ohne Musik nicht leben kann.

Kultur Joker: Herr Kuhn, Ihr neues Album „The L.A. Session“ haben Sie in den Capitol Studios aufgenommen, der vielleicht legendärsten Tonschmiede in den USA. Sind Sie stolz, dass Ihnen dies gelungen ist?
Paul Kuhn: Stolz nicht, aber ich bin froh, dass es stattgefunden hat. Ich war ein bisschen nervös, als ich in die Höhle des Löwen kam, weil dort noch dieselben Flügel und Mikrofone herumstanden wie zu Sinatras Zeiten. Auch der Tonmeister war noch derselbe. Dort läuft alles ab wie am Schnürchen.
Kultur Joker: Der Produzent und Toningenieur Al Schmitt ist 21-facher Grammy-Gewinner. Seinen Namen findet man auf Plattenhüllen von Frank Sinatra, Ray Charles, Neil Young oder Al Jarreau. Wie kamen Sie mit ihm zusammen?

Kuhn: Der Kontakt zu Al Schmitt kam über meinen deutschen Produzenten zustande. Alle waren sehr freundlich und nett. Das muss nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein, aber von dieser Zusammenarbeit waren wirklich alle Beteiligten sehr angetan.
Kultur Joker: Macht es einen Unterschied, ein Album in Deutschland oder in Amerika aufzunehmen?
Kuhn: Nun, im Capitol Studio haben viele große Namen ihre Platten aufgenommen. Und das ist einfach ein angenehmes Gefühl. Zudem freut man sich, mit solchen Profis spielen zu dürfen. Ohne viel geprobt zu haben, haben wir in zweieinhalb Tagen mehr als 15 Titel eingespielt. Wir brauchten uns nur anzugucken und schon konnte es losgehen. Dort war alles so präzise vorbereitet, dass überhaupt keine Zeit verloren ging. Zwischendurch mussten die Kollegen sogar noch mal weg, um woanders ein paar Titel aufzunehmen.
Kultur Joker: Mit Schlagzeuger Jeff Hamilton und Bassist John Clayton hatten Sie eine Rhythmusgruppe im Rücken, die zuvor mit Ella Fitzgerald, Quincy Jones, Michael Bublé, Whitney Houston und Diana Krall gearbeitet hat. Was macht diese Leute so speziell?
Kuhn: Jeff Hamilton ist zum Beispiel ein Schlagzeuger erster Qualität, sehr feinfühlig und kein Haurucktyp. Es gibt in Europa sicher Musiker, die genauso gut sind, aber man darf nicht vergessen, dass die Musik, die wir auf dieser Platte machen, daher kommt. Und das macht sich doch bemerkbar. Aber nichts gegen meine Leute in Deutschland.
Kultur Joker: Warum wollten Sie überhaupt nach Amerika?
Kuhn: Das wollte ich gar nicht, sondern mein Produzent hat es mir angeboten. Meine Frau und ich waren zum Golfspielen in Florida und sind dann nach L.A. geflogen, wo wir direkt gegenüber vom Capitol Studio gewohnt haben. Der Turm ist ja weithin bekannt. Al Schmitt, der dort der Chef ist, erzählte mir, dass schon Frank Sinatra über das Mikrofon gesungen und auf dem Klavier gespielt hätte. Nichts wurde seither verändert. Man ist dort irgendwie beflügelt.
Kultur Joker: Wird Ihr Album denn auch in Amerika erscheinen?
Kuhn: Das weiß ich nicht. Es ist auch nicht so, dass dieses Volk so ungeheuer swingt. Es sind immer nur die Jazz-Leute, die das machen. Die Allgemeinheit hat eigentlich keine Ahnung vom Jazz. Deshalb sind die ganzen Jazzer damals auch nach Europa gegangen. In Paris fing es an. Ich habe einige davon persönlich kennen­gelernt.
Kultur Joker: Auch Ihr damaliges Idol Frank Sinatra?
Kuhn: Ich habe ihn mehrfach live erlebt, aber leider nie persönlich getroffen. Er war der einzige, der mich mit seiner Singerei wirklich bewegt hat. Seine Musik war so ehrlich empfunden. Und sie wurde von richtig guten Jazzern gespielt.
Kultur Joker: Wie nähert man sich eigentlich einem Klassiker wie „As Time Goes By“, der bereits tausendfach interpretiert wurde?
Kuhn: Ich betrachte dieses Lied aus einem anderen Blickwinkel. Deshalb hat es für mich eine tiefere Bedeutung. Man darf nicht vergessen, dass es 1931 geschrieben wurde und der Autor Herman Hupfeld von einer Zeit erzählt, die mit Vorsicht zu genießen sei. Einstein mache da Versuche, die uns allen missfallen, aber doch nötig seien. Forschung hin oder her, die Welt dreht sich weiter und das wirklich Wichtige sind eine Umarmung und ein Kuss. Ich habe diesen Titel schon tausendmal gesungen und er macht mir immer noch Spaß.
Kultur Joker: Haben Sie die Arrangements für Ihr Album selbst geschrieben?
Kuhn: Ich habe sie nicht vorher geschrieben, sondern es sind spontane Head-Arrangements. Die beiden Jungs haben sich da drauf gehängt. Bei einer kleinen Besetzung ist sowas durchaus üblich, aber es muss vorher schon eine Besprechung über die Übergänge und die Tonartwechsel stattfinden. Das Improvisatorische ist der Spaß, den diese Musik mit sich bringt.
Kultur Joker: Haben Sie das Gefühl, dass Sie Musik desto tiefer empfinden, je älter Sie werden?
Kuhn: Ja, dem ist wirklich so. Im Jazz kann man wirklich alles verändern, und das ist auch erlaubt und sogar erwünscht. Ich spiele einen Titel jedes Mal ein bisschen anders, und dafür braucht man Begleiter, die das sofort kapieren.
Kultur Joker: Wegen einer Augenkrankheit können Sie nicht mehr gut sehen. Schärft dieser Umstand die anderen Sinne?
Kuhn: Ich höre immer wieder, dass Leute, die blind sind, sich über die Musik besonders gut ausdrücken können. Aber noch bin ich es nicht. Ich kämpfe hier und da damit, dass ich nicht so oft auf die Tasten gucke. Ich erfühle die Tasten so, wie sie sind. Bei großen Sprüngen muss man schon hingucken, aber es ist auch viel Glück dabei. Wissen Sie, Spielen ist eine Frage des Gefühls, die sehr schwer zu erklären ist. Man macht einfach weiter, unabhängig davon, ob man sehen kann oder nicht.
Kultur Joker: Ist Jazz die Musik, mit der man am würdevollsten altern kann?
Kuhn: Ich hoffe mal, dass es würdevoll bleibt.
Kultur Joker: Denken Sie beim Spielen oft an frühere Zeiten?
Kuhn: Nicht beim Spielen. Da denke ich eher daran, wie ich eine harmonische Verbindung von A nach C am schönsten, interessantesten oder virtuosesten hinkriegen kann. An das, was ich in meiner langen Karriere so gemacht habe, denke ich aber schön öfter. Und es macht mich ganz zufrieden. In der Jazz-Ecke kann ich eigentlich nicht mehr erreichen. Zudem bin ich der Meinung, dass der Jazz im Grunde abgeschlossen ist. Man weiß, wie die großen Improvisatoren spielen, die Ideen, wie man ein bestimmtes Stück anders interpretieren kann, sind allmählich ausgeschöpft.
Kultur Joker: Ihren ersten Soloauftritt hatten Sie vor 77 Jahren bei der Berliner Funkaufstellung von 1936, als die Fernsehtechnik erstmals einem Publikum präsentiert wurde. Sie sind sozusagen der erste deutsche Fernsehschaffende überhaupt.
Kuhn: Ich erinnere mich noch dunkel daran, wie ich als kleiner Junge auf dem Messegelände Volkslieder auf dem Akkordeon gespielt habe – ohne viel Tamtam. Genau dort, wo ich später beim Sender Freies Berlin tätig war.
Kultur Joker: Und wie haben Sie zum Jazz gefunden?
Kuhn: 1943/44 bei der Invasion der Alliierten war die Glenn Miller Band schon in England. Sie haben dort Sendungen gemacht für die „geknechtete deutsche Jugend“. Es war Tanzmusik mit ein paar Jazz-Titeln. So was wollte ich auch machen. Die Heimat der Jazzmusiker sind gute Tanzorchester, denn dort hat man die Möglichkeit, frei zu improvisieren.
Kultur Joker: Im Nationalsozialismus gab es die oppositionellen „Swing Kids“, die Tanzlokale besuchten und ihre Lieblingsmusik hörten. Wussten Sie davon?
Kuhn: Man wusste schon davon, aber dieser Club wurde natürlich geheim gehalten. Das waren Jazz-Fans. Immer wenn ein berühmter Jazzer gestorben war, trugen diese Jugendlichen Trauerflor. Und die Gestapo hat sich darüber gewundert. Ich war damals noch zu jung, um dazuzugehören. Ich ging während des Krieges in Frankfurt aufs musische Gymnasium und habe in Wiesbaden Musik studiert. Nach dem Krieg war Frankfurt die deutsche Hauptstadt des Jazz, weil alle amerikanischen Maschinen dort landeten. Ella Fitzgerald und Oscar Peterson spielten immer zuerst in der Festhalle.
Kultur Joker: Kannten Sie die große Ella Fitzgerald persönlich?
Kuhn: 1955 war ich mit meiner damaligen Frau in New York, dort hat Ella mich tatsächlich wiedererkannt. Es war eine rein private Reise, aber mir wurde dann von einem der modernen Komponisten angeboten, doch gleich drüben zu bleiben. Nur hatte ich in Deutschland gerade die ersten Erfolge mit diesen Bier-Schlagern. Ich wollte in Amerika nicht einer unter vielen sein.
Kultur Joker: In Deutschland arbeiteten Sie mit Stars wie Oscar Petersen, Shirley Bassey, Dionne Warwick, Gilbert Bécaud und Catharina Valente. Wer ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Kuhn: Oscar Peterson. Er war ein Gigant, so ein Pianist kommt nicht so schnell wieder. Und in Berlin habe ich Aufnahmen mit der Count-Basie-Band gemacht. Die Amerikaner waren immer erstaunt, dass es in Deutschland überhaupt so etwas gab wie mein Orchester.
Kultur Joker: Ihr Gesang ist berührend wie eh und je. Wie halten Sie Ihre Stimme fit?
Kuhn: Meine Stimme ist so wie sie ist. Ich mache gar nichts. Bis 2005 habe ich noch geraucht, aber nach meiner vierstündigen Herzoperation war damit Schluss. Angst ist die beste Möglichkeit aufzuhören. Ich bin meinen Ärzten sehr dankbar.
Kultur Joker: Unvergesslich geblieben sind Ihre TV-Auftritte mit Harald Juhnke. War das für Sie eine besondere Zusammenarbeit?
Kuhn: Harald war ein sehr guter Schauspieler, aber sein musikalisches Talent hat gerade gelangt, um im Showbusiness zu sein. Ich habe die Aufnahmen oft geleitet und ihm geraten, er solle nicht so einen Sinatra-Quatsch machen. Da habe ich nicht so drauf gestanden. Aber Juhnke war ein totaler Fan, er glaubte, er sei selber Sinatra. Das musste man ihm ein wenig ausreden.

Paul Kuhn – The L.A. Session (CD, In + Out Records);
Paul Kuhn – Swing 85. Birthday Box (2CD/1DVD, In + Out Records);

Am 28. April (20 Uhr) kommt das Paul Kuhn Trio nach Freiburg ins Jazzhaus, special guest: Gaby Goldberg. Infos: www.jazzhaus.de