Floß der Medusa / Neue Choreographie „Re.“ der Compagnie Nadine Gerspacher

Was ist das? Eine Insel, über die ein Sturm hinwegfegte ein Floß, das Stürmen trotzte bevor es an irgendeinem Strand angespült wurde? Nadine Gerspacher, in hellen Hosen und braunem Shirt, liegt abwesend in einem Sessel. Um sie herum eine umgefallene Topfpflanze, eine Lampe, ein Hocker. Es sind Objekte, auf die sich ein Heim reduzieren lässt. Im großen Saal des E-Werks ist dieser Zellkern an den Rändern ausgefranst, später gibt die Lichtregie diesem Arrangement eine Grenze. Während Nadine Gerspacher auf dem Pappsessel, der sich ziehharmonikaartig ausziehen lässt, vor sich hin zu dämmern scheint, bewegt sich Arias Fernández auf sie zu. Der Tänzer wirkt wie eingesunken, seine Hände umfassen eine Leere als hielte er einen Gegenstand. Dann regt auch sie sich, sie dreht sich auf der Sitzfläche, sie begegnen sich. Er steht hinter ihr, berührt sie leicht an Schulter und Gesicht. Kurz darauf gibt er dem Chaos Ordnung und Struktur. Die Pflanze wird aufgestellt, eine wohnliche Ecke mit dem Hocker als Tischchen und Lampe geschaffen. Er setzt sich neben sie.
„Re.“ heißt die neue Produktion der Compagnie Nadine Gerspacher, die sie zusammen mit Arias Fernández entwickelt hat. Dass es um die aktuelle Situation, Corona, Isolation und die Spaltung der Gesellschaft geht, kann man dem Ankündigungstext entnehmen. Corona jedenfalls hat die Compagnie Nadine Gerspacher nicht gelähmt, eine kleine Produktion im Sommer, ein Ensemblestück im Herbst und nun ein Duo. Und als Duo wird man die folgende Stunde auch rezipieren, die gesellschaftliche Deutung dieses Versuchs zwischen Nähe und Distanz ein für beide erträgliches Gleichgewicht herzustellen, wirkt etwas aufgesetzt.
Nadine Gerspacher und Arias Fernández legen die Beine übereinander, einen Moment ist sie wie eine Puppe ohne Körperspannung, dann hockt sie auf dem Tischchen. Die beiden testen aus, welche Positionen und Kombinationen mit zwei Körpern möglich sind. Das hat etwas vom Slapstick, der für die ästhetische Sprache von Gerspachers Choreografien grundsätzlich eine große Rolle spielt. Und plötzlich wirken diese Handvoll Möbel wie eine Arche inmitten einer Katastrophe, vor der man nur fliehen kann. Die Tänzerin und der Tänzer lassen ihre Gesichter zu einem stillen Schrei erstarren. Im Laufe des Stückes machen die beiden alle denkbaren Entwicklungen mit. Sie flüchtet sich in seine Umarmung, es gibt Drehungen und Sprünge zu sehen, die der Dramaturgie eines Paarkampfes zu folgen scheinen. Das liegt geradezu in der DNA eines Duos, ist aber – selbst wenn man die gesellschaftspolitische Perspektive mitdenkt – nicht eben neu. Und dennoch gibt es Bilder, die herausragen. Etwa wie die beiden ihre Kleidung einsetzen, denn unter der äußeren Schicht tragen beide Shirts aus dehnbarem Jerseystoff. Und so verschwinden einmal beide Köpfe in einem Shirt, dann zieht Nadine Gerspacher ihres aus, das Arias Fernández zusammenknüllt und unter sein eigenes stopft. Wenig später wird sie seine Jacke anziehen. Es sind Bilder, die für Nähe stehen. Erst recht, wenn sie am Ende sich auf seinem Brustkorb kauert und sich dann auf seine Beine legt: zwei Körper, die sich belagern. Es ist noch nicht vorbei.

Bildquellen

  • Arias Fernández und Nadine Gerspacher in der Choreographie „Re.“: © Nicolas Clausen