Im Gespräch: Thomas Kuban, Enthüllungsjournalist und Autor

Thomas Kuban hat jahrelang mit versteckter Kamera und unter Lebensgefahr bei Rechtsrock-Konzerten gefilmt, er arbeitete mit „Spiegel TV“, „Stern TV“ und „Panorama“ zusammen. In dem Buch „Blut muss fließen – Undercover unter Nazis“ berichtet der Enthüllungsjournalist über die neonazistische Jugendkultur in Europa. Sein Fazit: Die rechte Musikszene ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen und stellt eine massive Bedrohung für die Demokratie dar. Olaf Neumann sprach mit Thomas Kuban – dessen Name ein Pseudonym ist

Kultur Joker: Herr Kuban, hat sich etwas verändert, seit die Zwickauer Terrorzelle NSU und ihre Morde bekannt wurden? Schließlich vergeht kaum ein Tag, an dem die Medien nicht über Neonazis und das Versagen der Behörden berichten.
Thomas Kuban: Über den NSU wird angesichts der zehn Todesopfer medial zu Recht in großem Stile berichtet. Wenn man aber bedenkt, dass nach einer Recherche der „Zeit“ und des „Tagesspiegel“ seit 1990 rund 150 Menschen an den Folgen rechtsextremistischer Gewalt gestorben sind, der Staat parallel dazu aber nur 60 Opfer gezählt hat, frage ich mich, wieso das Thema nicht jede Woche auf der politischen Agenda steht. Die Differenz von 90 Todesopfern nimmt man einfach so hin. Man weiß seit Jahrzehnten, was für eine Gefahr von den Neonazis ausgeht, und trotzdem wird das, was die Bewegung jenseits des NSU ausmacht, nach wie vor vernachlässigt.
Kultur Joker: Sie haben zehn Jahre lang bei Rechtsrock-Konzerten verdeckt gefilmt. „Frei.Wild“ aus Südtirol wird in Deutschland mit goldenen Schallplatten geehrt und tritt hier in den größten Hallen auf. Wo verorten Sie diese Band?

Thomas Kuban: In meinem Buch „Blut muss fließen“ hatte ich „Frei.Wild“ noch in der Grauzone verortet. Mit ihrer neuen CD befinden sie sich aber ganz klar im Bereich des Rechtsrock. Sie arbeiten subtil mit Anspielungen und Andeutungen wie es auch einige Neonazibands tun, die sich nicht strafbar machen wollen. Frei.Wild singen beispielsweise, „Gutmenschen und Moralapostel“ würden Geschichte nicht ruhen lassen, weil sie noch „Kohle“ bringe, und sie behaupten, dass „Gutmenschen und Moralapostel“ reich seien. Damit spielen sie auf das antisemitische Stereotyp von angeblich reichen Juden an. Auch würdigen sie Opfer der Nazi-Diktatur herab, die für ihre unbeschreiblichen Leiden Entschädigungszahlungen vom deutschen Staat erhalten. „Frei.Wild“ opponieren gegen die politische Korrektheit. Wer sich nicht für sich selbst schäme, stehe am gesellschaftlichen Pranger. Für den gebe es keinen Stern mehr, sondern einen Stempel. Das ist eine gewaltige Verharmlosung der Judenverfolgung. Dass „Frei.Wild“ sich selber in der Rolle der neuen Juden sieht, ist absurd. Hinzu kommt ein betont aggressiver Nationalismus.
Kultur Joker: Wie erklärt sich der Erfolg von Frei.Wild beim Massenpublikum?
Kuban: Viele Frei.Wild-Anhänger rekrutieren sich aus dem Fanspektrum der Böhsen Onkelz. Nach deren Auflösung waren zigtausend Fans heimatlos. Zudem haben einige Texte von Frei.Wild eine ähnliche Stoßrichtung. Sie stellen sich gerne als die Verfolgten dar, die gegen alle Widerstände den wahren Weg gehen. Das sind die gleichen spätpubertären Züge wie bei den Böhsen Onkelz: Eine Band mit wackeren Jungs gegen den Rest der Welt. Offenbar kommt das bei vielen gut an.
Kultur Joker: Und worin unterscheidet sich Frei.Wild von den Böhsen Onkelz?
Kuban: Die Böhsen Onkelz haben zwar mit ihrer Skinhead-Vergangenheit bis zum Schluss kokettiert, wenn sie zum Beispiel sangen: „Mit scheinheiligen Liedern erobern wir die Welt“. Aber es gab bei ihnen, nachdem sie sich von der rechtsextremen Szene losgesagt hatten, keine rechtspopulistischen Texte mehr. Frei.Wild hat derartige Texte bis heute. Deswegen ist deren Bandgeschichte von Distanzierungen gepflastert. Erst mal hat sich der Sänger aufgrund öffentlichen Drucks von seiner Vergangenheit in einer klassischen rechten Band distanziert, dann war er in Südtirol auf einmal in der Partei der Freiheitlichen aktiv, einer Schwesterpartei der FPÖ in Österreich. Auch davon hat er sich auf öffentlichen Druck hin distanziert. Und da Frei.Wild mit der neuen CD erneut in die Kritik geraten ist, hat er sich in einer Videobotschaft einmal mehr von rechtem Gedankengut distanziert. Andernfalls würde die Band natürlich auch Gefahr laufen, dass ihr die Großstadthallen verschlossen bleiben. In einer früheren Videobotschaft hatte der Sänger übrigens Skinheads noch willkommen geheißen – wenn sie sich denn benähmen. Dieses Statement stand Jahre lang im Internet, vor kurzem hat er sich auch davon distanziert.
Kultur Joker: Frei.Wild wehrt sich gegen den Vorwurf, rechtsextrem zu sein. Sieht man bei ihren Konzerten Nazi-Skinheads?
Kuban: Am 6. Oktober 2012 war ich in Südtirol bei der CD-Präsentation von Frei.Wild. Sie hatten dafür das Zelt der Kastelruther Spatzen gemietet, auf deren Open-Air die Rockband auch schon aufgetreten ist. Auf dem Weg zum Zelt bin ich einer Gruppe Fans begegnet, die gerade das Lied „Ran an den Feind“ der Neonazi-Kultband Landser sangen. Im Refrain wird ein Bombardement Israels gefordert. Man sieht bei Frei.Wild-Konzerten zwar relativ wenige einschlägige T-Shirts, weil die Einlasskontrollen entsprechend ausgerichtet sind. Aber Aufdrucke wie „Todesstrafe für Kinderschänder“, die auf eine gleichnamige Neo­nazi-Initiative zurückgehen, finden sich sehr wohl. Und wenn der Frei.Wild-Sänger sein Publikum auffordert, die Hände nach oben zu recken, sagt er schon mal sicherheitshalber dazu, dass es nicht nur die rechten sein sollten. Auch in Deutschland wird die Band für ihre nationalistischen Statements bejubelt. Die jungen Leute lernen die Lieder auswendig und grölen sie mit. Damit verfestigen sich die nationalistischen Botschaften im Kopf.
Kultur Joker: Lassen sich junge Leute am leichtesten über Party, Musik und Alkohol ködern?
Kuban: Genau das ist jahrelang unterschätzt beziehungsweise verharmlost worden. Mittels Musik rekrutieren die Neonazis große Teile ihres Nachwuchses. Natürlich kommt es auch auf andere Faktoren an, aber mit Rockmusik kann man generell junge Leute ansprechen. Musik weckt Gefühle, und auf der emotionalen Ebene kann man sehr gut politische Botschaften transportieren. Und diese politischen Botschaften sprechen wiederum unmittelbar Gefühle an wie eben Fremdenhass. Das Kameradschaftsgefühl, bei diesen Konzerten gemeinsam das Verbotene zu tun, übt einen ganz besonderen Reiz aus. Man fühlt sich stark, zeigt den Hitlergruß, schreit „Sieg Heil!“, feiert in Liedern den Mord an Juden und Fremden. Das macht die Szene stark. Und wenn sie dann noch an praktisch jedem Wochenende erlebt, wie schwer sich die Polizei tut, ihre Konzerte zu unterbinden, sorgt das für zusätzliches Selbstbewusstsein. Die Neonaziszene muss sich die rechtsfreien Räume gar nicht selber erarbeiten, sie bekommt sie regelrecht überlassen.
Kultur Joker: Wie tief steckt die NPD in dieser Konzertszene drin?
Kuban: Bei NPD-Veranstaltungen spielen oft prominente Rechtsrockbands wie die Lunikoff-Verschwörung um den ehemaligen Landser-Sänger. Die müssen sich dann mit Straftaten zurückhalten, aber auch dort gibt es Hitlergrüße im Publikum. Beim NPD-Sachsenfest 2009 zum Beispiel traten aber nicht nur Rechtsrockbands auf, im hinteren Bereich des Open-Air-Geländes stand noch eine Hüpfburg für Kinder und abends wurde ein Fackelmarsch gemacht. Bei solchen Partei-Festivals wird das ganze Spektrum bedient von der nationalistisch denkenden bürgerlichen Familie bis hin zu den Hardcore-Nazis.
Kultur Joker: Der ehemalige Landser-Sänger Michael „Lunikoff“ Regener wurde 2003 wegen Volksverhetzung und Bildung einer kriminellen Vereinigung zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Macht ihn gerade das zu einer starken Identifikationsfigur für den rechten Nachwuchs?
Kuban: Lunikoff hat eine Märtyrerrolle, weil er als einziger von seiner Band zu seiner Einstellung gestanden hat und dafür sogar ins Gefängnis gegangen ist, während die anderen mit Bewährungsstrafen davongekommen sind. In einem Lied seiner neuen Band Lunikoff Verschwörung wünscht er solchen ehemaligen Kameraden den Tod. Seine Knast-Vergangenheit wird ihm in der Szene hoch angerechnet, hinzu kommt sein Talent. Er schafft es, aus Sicht der Szene gewitzte und pointierte Texte zu schreiben. Seine Auftritte haben teilweise kabarettistischen Charakter.
Kultur Joker: Und wie eloquent ist Frei.Wild-Sänger Phillip Burger?
Kuban: Lunikoff ist weitaus talentierter als Burger. Burger bringt eher diese rotzige Haltung rüber, wie sie auch für die Böhsen Onkelz typisch war. Er ist ein furchtbar schlechter Texter. Wer aber entsprechend denkt, erkennt sofort die Botschaften in den – insgesamt betrachtet – reichlich wirren Texten, die bruchstückartig zusammengesetzt sind. Viele brüllen sie wahrscheinlich einfach gedankenlos mit, doch setzen sich die inhaltlichen Aussagen mit der Zeit fest. Dann wird Nationalismus beispielsweise zu etwas selbstverständlichem. Lunikoff hingegen kann mit Worten spielen. Bei seinen Auftritten macht er Witze über die Polizei, die gerade zuguckt. Wobei Frei.Wild ungleich mehr Publikum hat. Von den Redaktionen, denen ich mein Recherchematerial angeboten habe, habe ich unter anderem das ablehnende Argument gehört, man wolle den Rechten keine Bühne bieten. Dazu muss ich sagen: Hätte man sich vor zehn Jahren solide mit Frei.Wild beschäftigt, würden sie heute nicht in den Großstadthallen spielen.
Kultur Joker: Steffen Wilfried Hammer, ehemaliger Sänger der Rechtsrockband Noie Werte, ist von Beruf Rechtsanwalt. Eine Ausnahmeerscheinung innerhalb der Szene?
Kuban: Hammers Juristenkollege Alexander Heinig, der frühere Sänger der rechtsextremen Band Ultima Ratio, wurde sogar Kompagnon in einer Kanzlei, die dem inzwischen verstorbenen ehemaligen Synodalpräsidenten der evangelischen Landeskirche Württemberg, Oswald Seitter, gehörte. Heinig hat diese Kanzlei übernommen, wobei er mit Hammer kooperiert. Und Oliver Hilburger, einer der ehemaligen Gitarristen von Noie Werte, saß bei Daimler für die Christliche Gewerkschaft Metall im Betriebsrat, inzwischen hat er eine eigene Liste geründet. Nachdem der NSU aufgeflogen war, erklärte er als Betriebsrat deutlich seine Solidarität mit den Opfern, was mich positiv überrascht hat.
Kultur Joker: Noie Werte rückte 2010 ins öffentliche Bewusstsein, weil die Neonazi-Terroristen des NSU zur Untermalung eines Bekennervideos Musik der Band verwendet hatten. Hat sich das NSU-Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe über die Musik radikalisiert?
Kuban: Das kann ich persönlich nicht einschätzen, weil ich dazu keine eigenen Recherchen angestellt habe. Der jetzige Stand der Untersuchungen ist, dass der NSU vom Nazimusiknetzwerk Blood & Honour unterstützt worden sein könnte und bei Konzerten gewisse Treffen stattgefunden haben könnten. Es ist natürlich eine Funktion von Konzerten, dass sich Nazikader dort abhörsicher austauschen. Ende 2010 war ich bei einem Nazikonzert in Belgien in einem Clubhaus der Red Devils, einem Unterstützerclub der Hells Angels. Dort sah man die Rocker mit den Vertretern der verschiedenen internationalen Blood & Honour-Divisionen rumstehen. Und dann musste ich wieder lesen, dass der Verfassungsschutz keine strukturellen Verbindungen zwischen Nazi- und Rocker-Milieu sieht.
Kultur Joker: Wie hat sich der Rechtsrock in den vergangenen Jahren verändert?
Kuban: Bei der Neonazimusik sind die Texte tendenziell legaler geworden. Heute gehört es zum Standard, dass sie vor der Veröffentlichung von einem Anwalt geprüft werden, weil man natürlich damit Geld verdienen will. Qualitativ ist das Spektrum größer geworden, es gibt nach wie vor die Schrammelkapellen, die vor sich hin holpern, aber es gibt inzwischen auch musikalisch hochwertige Gruppen wie Heiliger Krieg, ein Nachfolgeprojekt von Race War. Neben Landser war Race War die einzige Band, deren Mitglieder wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt worden sind. Neben dem klassischen Rock Against Communism gibt es noch den NS-Hatecore, der mit dem Hardcore verwandt ist und beispielsweise von Autonomen Nationalisten bevorzugt gehört wird. In der Naziszene ziemlich umstritten ist hingegen der einschlägige Rap, weil er trotz der politischen Aussagen als „Negermusik“ betrachtet wird.
Kultur Joker: Wie geht die etablierte Musikpresse mit Bands wie Frei.Wild um?
Kuban: Das Magazin „Rock Hard“ zum Beispiel hat zur neuen Frei.Wild-CD einen sehr positiven Vorbericht gebracht mit dem Tenor: Die Schlips-und-Kragen-Feuilletonisten könnten schreiben was sie wollen, Frei.Wild sei zwar umstritten, aber längst eine der erfolgreichsten Deutschrockbands. Ich finde, der politische Aspekt ihrer Texte sollte bei der Berichterstattung zumindest aufgegriffen und genauer betrachtet werden. Dies findet in Teilen der renommierten Rockpresse nicht statt. Das Magazin Legacy, das als einer der ersten die neue CD hören durfte, kritisiert inzwischen sogar die Frei.Wild-Kritiker. Von Bands wie Heiliger Krieg hingegen, die im Verfassungsschutzbericht stehen, lassen die etablierten Magazine die Finger. Und die Bremer Gruppe Kategorie C, die eigentlich als rechtsextreme Band klassifiziert werden müsste, gilt für den Verfassungsschutz immer noch explizit als Hooliganband, die aber viele Rechtsextremisten anzieht. Tatsächlich sind aber ihre Konzerte von klassischen Nazirockkonzerten nicht zu unterscheiden. Es sind Nazis im Publikum, es werden rechte Sprüche auf der Bühne gemacht. Manche Fans zeigen den Hitlergruß oder sie stimmen Nazi-Evergreens wie den „Polacken-Tango“ an.
Kultur Joker: Mit welchen politischen und gesellschaftlichen Strategien kann man dem Treiben ein Ende setzen?
Kuban: Es kommt dabei auf alle gesellschaftlichen Kräfte an: die Bürger, die Politik, die Polizei, die Medien, den Verfassungsschutz. In der hessischen Gemeinde Kirtorf, die lange Zeit ein zentraler Szenetreffpunkt war, habe ich 2004 ein Nazikonzert in einem umgebauten Schweinestall gefilmt. Danach hat das TV-Magazin „Kontraste“ darüber berichtet. Infolgedessen hat die Polizei mit großem Engagement ermittelt. Mitglieder einer Band und die Organisatoren sind dann gerichtlich verurteilt worden, das zuständige Ordnungsamt hat weitgehende Veranstaltungsverbote auch für die Zukunft verhängt. Auch eine Bürgerinitiative hat massiv mobil gemacht. So ist es gelungen, die Rechten sehr deutlich in ihre Schranken zu verweisen. Vor allem muss eine bessere Sozial- und Wirtschaftspolitik gemacht werden, denn der Lohn vieler Jobs reicht heute nicht mehr, um davon eine Familie zu ernähren. Genau in diese Wunde legt die NPD ihre Finger.
Kultur Joker: Welche Beobachtungen haben Sie in den verschiedenen Bundesländern gemacht?
Kuban: Das ist wechselhaft und hängt von der Prioritätensetzung des jeweiligen Innenministers ab. In Sachsen-Anhalt scheint die Polizei seit einiger Zeit mit großem Engagement gegen die Szene vorzugehen. Ich war am 11. August 2012 bei einem Konzert von Kategorie C, die vom Verfassungsschutz nicht mal als rechtsextrem eingestuft werden. Aber die Polizei hat es trotzdem beendet, nachdem es Hitlergrüße gegeben hatte. Die Szene ist superfrustriert abgezogen. Würde das jedes Wochenende passieren, wäre die Struktur, in der der rechte Nachwuchs rekrutiert wird, ziemlich schnell zerstört. Angesichts dieser Zusammenhänge, die im Grundsatz auch staatlichen Ermittlern schon seit Jahren bekannt sind, ist es mir unbegreiflich, wieso ich im Bundesverfassungsschutzbericht 2011 nachlesen muss, dass es nach dortiger Zählung rund 130 rechtsex­treme Konzerte gab und davon nicht einmal zehn Prozent aufgelöst wurden.

Das Buch:
Thomas Kuban: Blut muss fließen. Undercover unter Nazis. Frankfurt/M. 2012 (Campus-Verlag), 316 S., 19,99 Euro.

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  • Thomas Kuban: Promo