Ein Zustand der Gnade

Der 80-jährige Pianist Leon Fleisher berührt beim Lucerne Festival
Der Konzertabend beginnt wie jeder andere, die Erwartungen im Kultur- und Kongresszentrum Luzern sind groß. Auch der Auftritt des Pianisten ist nicht weiter ungewöhnlich. Die Noten trägt Leon Fleisher selbst unter dem Arm, eine kurze Verbeugung – dann beginnt das Rezital des 80jährigen Amerikaners. Fleisher sitzt tief am Flügel. Seine Haltung ist gebeugt, die Finger liegen entspannt auf den Tasten. Die ersten Klänge von Johann Sebastian Bachs „Schafe können sicher weiden“ aus der Jagdkantate werden von seinen großen Händen ganz zart intoniert. Man muss viel Leid erlebt haben, um als Musiker eine solche klangliche Entrückung entstehen lassen zu können. Dankbarkeit liegt darin und Demut, Kraft und Konzentration. Und man spürt allmählich, dass an diesem Abend nichts gewöhnlich sein wird.

Wenn ein Musiker von heute auf morgen die Sicherheit verliert und sein Körper ihm nicht mehr gehorcht, dann ist das nicht nur ein physisches Problem. Das Vertrauen in die eigene Person ist erschüttert, die Seele verwundet. Leon Fleisher kennt diese Erschütterung. 1964 befindet er sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Mit George Szell und dem Cleveland Orchestra spielt er die Klavierkonzerte von Brahms, Beethoven und Rachmaninov ein – und zieht als gefeierter Virtuose die Massen in Bann. Dann, bei der Vorbereitung für eine Russlandtournee passiert es. Hier ein ungenauer Triller, da eine Verzögerung im Anschlag. Immer wieder rollen sich Ringfinger und der kleine Finger der rechten Hand ein. Die erschütternde Diagnose lautet: Fokale Dystonie. Das Zusammenspiel zwischen Gehirn und Finger funktioniert nicht mehr, bestimmte Gehirnteile sind überaktiv und blockieren den Muskel. Leon Fleisher konstruiert nicht wie Robert Schumann, der an der gleichen Krankheit litt, eine Schleife für die unbrauchbaren Finger, sondern wendet sich nach einer kurzen Schockstarre dem Klavierrepertoire für die linke Hand zu, von dem es rund 1000 Stücke gibt. Über dreißig Jahre lang spielt Fleisher nur mit der linken Hand. Er dirigiert und unterricht, vertieft seine Interpretationen. Und dann eröffnet sich Mitte der 90er Jahre durch eine Therapie mit Botulinumtoxin (Botox) doch noch für ihn ein Weg aus der unheilbaren Krankheit. Das Nervengift, mit dem sich andere Gesichtsfalten glätten lassen, ist für Fleisher die Rettung. Nach und nach werden die beiden Finger seiner rechten Hand wieder lockerer, Tiefenmassage und Dehnübungen verbessern den Erfolg weiter: „Ein Zustand der Gnade, ein Zustand der Ekstase“, sagt der Pianist. 2003 erfolgt das Comeback mit zweihändigem Repertoire in der New Yorker Carnegie Hall, ein Jahr später veröffentlicht er eine CD mit dem Titel „Two Hands“.

Bei seinem berührenden Auftritt in Luzern blickt Leon Fleisher auf diese Zeit zurück, indem er Bachs Chaconne in d-Moll in einer Bearbeitung für die linke Hand spielt. Nichts fehlt bei dieser kraftvollen Interpretation. Hier zeigt ein großer Musiker, dass die Kunst stärker ist als die Krankheit. Dabei wirkt der Pianist entspannt und in sich ruhend. Fleisher inszeniert nichts. Er spielt einfach Klavier. Und treibt doch so manchem in Luzern Tränen in die Augen.

Georg Rudiger


Video: „Schafe können sicher weiden (Bach)“ – Leon Fleisher

Ein Gedanke zu „Ein Zustand der Gnade

  • 11. Februar 2009 um 19:10 Uhr
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    Durfte Zuhörer eines Konzertes von Herrn Leon Fleisher sein. Es ist beeindruckend und bewundernswert, wie dieser Mann mit seinem Schicksal umgegangen ist. Möge er noch viele Konzerte geben!

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